Salomes siebter Schleier (German Edition)
Spezialistin war. Oder, weniger freundlich ausgedrückt, ein ebensolcher
idiot savant
wie Boomer Petway. Außerhalb des Reiches der Kunst war sie nicht besonders beschlagen. Trotzdem hatte sie jetzt das Gefühl, in mehreren wichtigen Bereichen etwas verstanden zu haben, plötzlich, ohne jede Anstrengung und binnen – das war das Verrückteste daran – dieser knapp anderthalb Stunden, die sie Salome beim Tanzen zugesehen hatte. Wenn es eine Verbindung zwischen den Offenbarungen und dem Tanz gab, so erkannte sie sie nicht. Sie musste zugeben, dass die Kleine trotz ihrer rotznäsigen Art und ihrer Storchenbeine umwerfend war, aber Salomes Wirkung beschränkte sich nicht auf das
Bewusstsein
. In Wirklichkeit machte die Kleine sie scharf – sie, die sich noch nie für andere Frauen interessiert hatte. Und das ließ es noch ungewöhnlicher erscheinen, dass ihr gleichzeitig große abstrakte Gedanken durch den Kopf schossen. Nur waren es weniger selbsterzeugte Gedanken als … Sie hatte das Gefühl, dass es ihr wie Schuppen von den Augen fiel, und sie sah Dinge, auf die das Augenspiel sie niemals vorbereitet hatte.
Dann fiel Ellen Cherry auf, dass keiner der Gäste seit langer Zeit auch nur ein Glas Wasser bestellt hatte. Sie fragte sich, ob auch sie Weisheit aus dem Tanz der sieben Schleier schöpften, ob außer ihr noch jemand diese wortreichen Epiphanien mitbekam. Von Gesicht zu Gesicht wanderte ihr Blick. Sie waren völlig abwesend. Der bärbeißige schwarze Detective wirkte wie versteinert mit seiner Maccabee-Dose an den Lippen. Und Dr. Farouk, der in der Halbzeit aus dem Hof hereingeschlichen war, um einen kurzen Blick auf Salome zu erhaschen, stand da wie angenagelt und versperrte mit seinem fezgekrönten massigen Körper den Durchgang. Wegen des Orchesters war es schwierig, etwas zu verstehen, aber es hörte sich an, als sei die Super-Bowl-Menge hektisch und fröhlich im Vergleich zu der beinahe ehrfürchtigen Stimmung hier drin. Trotzdem konnte Ellen Cherry nicht mit Sicherheit feststellen, ob irgendjemand ihre Erkenntnisse teilte. Vielleicht musste man dazu in letzter Zeit unheimliche Begegnungen mit einem Löffel gehabt haben.
Eeena eeena eena eena
Eh eh-eh eeena zop
Ein vierter Schleier löste sich, umflatterte mehrmals die wirbelnde Gestalt der Tänzerin (offenbar hatte er zuvor beide Arme umschlungen) wie eine gashaltige Wolke von Sternenmaterie, die um eine Galaxie kreiste, bevor sie sich schließlich von der Anziehung der Schwerkraft befreite und einem neuen Heim am Rand des Podiums zustrebte. Da verstand Ellen Cherry, dass Religion eine unangebrachte Reaktion auf das Göttliche ist.
Religion war der Versuch, das Göttliche festzulegen. Das Göttliche befand sich in beständiger Bewegung, in einem ewigen Wandel, es nahm immer wieder neue Gestalt an. Das war seine Natur. Es war absolut beweglich. Absolut transzendent. Absolut flexibel. Absolut unpersönlich. Es hatte seine Gott- und Göttinnen-Aspekte, aber letztlich war es nicht mehr Mann oder Frau als Stern oder Schraubenzieher. Es war die Summe all dieser Dinge, aber diese Summe ließ sich nicht mit Kreide auf einer Schiefertafel errechnen. Das Göttliche ging über jede Beschreibung, jedes Wissen, jedes Verstehen hinaus. Zu sagen, dass das Göttliche gleich Schöpfung geteilt durch Zerstörung war, kam der Sache so nahe, wie eine Definition es nur kann. Doch die Armen im Geiste und die Schwachen im Herzen gaben sich damit nicht zufrieden. Sie wollten dem Göttlichen ein Gesicht verpassen. Sie gingen so weit, ihm kleinliche menschliche Emotionen (Wut, Eifersucht usw.) unterzuschieben, ohne einen Augenblick darüber nachzudenken, dass Gott, wäre er ein Wesen, selbst ein erhabenes Wesen, sich über unseren Gebeten längst zu Tode gelangweilt hätte.
Das Göttliche war expansiv, die Religion dagegen reduktiv. Religion versuchte, das Göttliche auf eine genau definierte Quantität zu reduzieren, mit der Sterbliche vernünftig umgehen konnten, es ein für alle Mal in eine Schublade zu packen, damit wir uns nicht immer wieder neu darauf einstellen mussten. Mit dem Hammer leerer Phrasen und den Nägeln des Dogmas haben wir gekreuzigt und immer wieder gekreuzigt und versucht, das flüchtige Licht der Welt auf unseren unverrückbaren Altären festzunageln.
Und so gab die Religion falsches Zeugnis ab vom Göttlichen, Religion war Blasphemie. Und als sie erst in ihre unheilige Allianz mit der Politik eingetreten war, wurde sie zur gefährlichsten und
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