Salomes siebter Schleier (German Edition)
mein eigen Fleisch und Blut wärst … Ich will dich mal was fragen, Kleines. Wie oft kommst du eigentlich hierher und guckst dir diesen versteinerten Depp an?»
«Jetzt, wo ich in Laufentfernung arbeite –» Hoppla. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, sich so zu verplappern. «Oh, ich weiß nicht. Ziemlich oft wohl. Er ist eine Quelle des Trostes und der Inspiration für mich, Onkel Bud. Man könnte wohl sagen – das wirst du nicht gern hören –, dass er so was wie meine Kirche ist.»
«Hmpf! Schöne Kirche. Er hat keinen roten Heller in seinem Klingelbeutel.»
Der Grundstein zu St. Patrick’s wurde 1858 gelegt, in einer Zeit, als New York gerade anfing, so richtig aufzublühen, und Jerusalem (unter den Türken) bis zum Hals in Schutt und Asche lag. Wie viel Jahre Ellen Cherrys «Kirche» auf dem Buckel hatte, war schwer einzuschätzen. Turn Around Norman war eines dieser Geschöpfe unbestimmbaren Alters; er hätte zwischen Ende zwanzig und Anfang vierzig sein können. Auch das mit seinem Gewicht war so eine Sache, denn zwar hätte ihn jeder Zuschauer als übergewichtig eingeordnet, aber keiner wäre auf die Idee gekommen, ihn als fett zu bezeichnen. So ein bisschen rosig und ein bisschen rund, wie er war, ähnelte er einem gesunden Cherubim. Doch, oh, an was für Höllentorscharnieren hing sein Gesicht vor dem großen Kopf! Die blitzenden blauen Augen, die tief gefurchte Stirn, dieser Mund, der eines übergeschnappten Poeten würdig gewesen wäre (gespitzt, wie um den zerbrechlichen Knöchelchen der Schönheit das Mark auszusaugen), die Nase so vollkommen, dass sie auf einem Schwan in die Stadt hätte einschweben können; all dies vereinigte sich zu einem stolzen Ausdruck, einer Mischung aus Transzendenz und Tragik, die die Herzen vieler Frauen in der Stadt hätte höher schlagen lassen können und ihre Höschen feucht werden, hätten sie ihm auch nur die geringste Aufmerksamkeit geschenkt, wie er da still und scheinbar reglos an der belebten Straße stand, in seinem ausgebeulten braunen Anzug, den schmutzigen Turnschuhen und einem farblosen Sweatshirt mit dem Aufdruck
Aplondontia rufas
, was, wie Ellen Cherry nach einigen Nachforschungen herausbekam, die lateinische Bezeichnung für eine Biberspezies war.
Im Moment blickte Turn Around Norman nach Downtown, daher sahen sie ihn im Profil. Offenbar konnte er sie in seiner augenblicklichen Stellung nicht wahrnehmen, was Ellen Cherry nur recht war. Sie wollte nicht, dass ihre «Kirche», ihr «Kunstmuseum», ihr «Ballettsaal» mitbekam, dass der aufdringliche Prediger einer anderen Glaubensrichtung ihr Gesellschaft leistete. Sie hoffte, dass Buddy verschwinden würde, solange noch Zeit war, an der friedlichen Ekstase dieses wundervoll beherrschten und doch innerlich glühenden Straßenkünstlers teilzuhaben, aber Buddy hielt trotz der traurig prickelnden herbstlichen Kühle aus und beglotzte Turn Around Norman wie ein Farmerjunge eine plattgefahrene Schlange.
«Also, schlägt das nicht alles», staunte er. «Ein gesunder junger Mann, der auf ei’m öffentlichen Bürgersteig steht und sich den lieben langen Tag um die eigene Achse dreht, so lahmarschig, dass man ihm nich mal dabei zusehn kann. Pah! Und obendrein erwartet er scheint’s auch noch Lohn dafür, obwohl man kaum was mitkriegt!»
«Noch ein Zug, den er mit der Kirche gemein hat, schätze ich. Das war mir bisher entgangen.»
Buddys verborgenes Saxophon gab einen leisen, indigoblauen Ton von sich. «Mädchen, ich warne dich, Gott der Allmächtige wird dich erschlagen, wenn du so weitermachst, aber das sag ich auch deiner Mama schon seit Jahren, und er in seiner unendlichen Sanftmut und Güte hat den Blitzstrahl seiner Rache bisher zurückgehalten.»
«Es würde dir doch ganz schön leidtun, wenn Patsy der Blitz erschlüge. Dir und der halben männlichen Einwohnerschaft von Colonial Pines.»
Jetzt legte Buddy ihr beide Hände auf die Schultern. Er brachte sein Gesicht so nah an das ihre, wie ihre Haare es zuließen. «Dann weißt du also von den Flirts deiner Mama?», flüsterte er.
«Ich wusste schon davon, als ich noch gute Feen in meinem Essen sah. Aber das ist lange her, denke ich, und die Vergangenheit soll man ruhen lassen.»
«Find ich auch. Reden wir lieber von der Gegenwart.»
«Onkel Buddy, ich habe keine Zeit zum Reden.» Besorgt betrachtete sie das schwindende Licht. Noch fünf Minuten, und Turn Around Norman wäre Geschichte. Oder besser gesagt Geologie. «Aber das
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