Salomes siebter Schleier (German Edition)
der Asse und lebende Tauben aus dem Ärmel zaubert, an eine schwangere Vogelscheuche, die ihre Euter durchs Korn schleift oder, genauer gesagt, an Schleier, die eine Tänzerin von ihrem wirbelnden Körper löst und gekonnt nachlässig auf den Tempelboden wirft.
Weil Ellen Cherry so verzweifelt schluchzte, hörte sie nichts davon, und als sie sich endlich beruhigte und vom Lager ihrer dumpfen Trübsal aufrappelte, hatten sich die lauten Schnipsel wieder in Fetzen einer zerrissenen Einladung zurückverwandelt. Diese sammelte sie auf und trug sie zum Mülleimer unter der Spüle, wo sie sie, ohne hinzusehen, auf eine verdutzte Kreatur am Boden des Sacks warf, als hätte sie unwissentlich die Schirmherrschaft über die Konfettiparade zu Ehren eines Kakerlakenastronauten übernommen: «Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Sprung für die Menschheit, acht hastige Trippelschrittchen für den ersten blinden Passagier auf dem Mond.»
Bei der Arbeit am nächsten Morgen war Ellen Cherrys Kopf ein Klumpen dickflüssiger Lakritze. So rabenschwarz und zäh ging es darin zu, dass Abu und Spike ihr Tennismatch verschoben, um sie im Auge zu behalten. Sie saßen an einem Ecktisch, schlürften gezuckerten Tee und unterhielten sich über Jerusalem, doch ihre gewohnheitsmäßig wachsamen Augen, unterschiedlich in Farbton und Größe, folgten jeder ihrer Bewegungen. Es bedurfte nicht vieler Bewegungen, um eine Gästeschar zu bedienen, die in ein Schlauchboot gepasst und darin immer noch Platz für das aufgeblasene Getue eines Diplomaten gefunden hätte.
Es war eine ziemlich harte Woche in und um Jerusalem gewesen, dieser Stadt, die noch nie viel zu lachen gehabt hat, eine harte Woche für Araber und Juden gleichermaßen. Als israelische Truppen mit Gewalt eine nationalistische Studentendemonstration in der West Bank niederschlugen, rächte sich ein palästinensischer Student, indem er einen Brandsatz gegen ein vorbeifahrendes Auto schleuderte, der eine Frau tötete und ihrem Mann sowie drei kleinen Kindern schwere Verbrennungen zufügte. Die jüdischen Siedler in der Umgegend beantworteten den Anschlag mit einer wilden Vandalentour durch ein palästinensisches Flüchtlingslager, das bereits vorher bis hinauf zu seinen braunen Augen im Elend gesteckt hatte.
«Ich glaube, dass es sind die Steine», sagte Spike. «Sind einfach zu viele Steine im Nahen Osten! Wenn man hat so viele Steine, ist nicht schwer, einen aufzuheben und ihn seinem Nachbarn an den Kopf zu werfen. Früher man hat geschleudert Felsbrocken gegen anderer Leuts Schädel. Heute man wirft mit Molotowcocktails. Bum bum bum. Hat Tradition, dieses ewige Steinewerfen.»
«Von Steinen über Molotowcocktails zu Atombomben. Ja», stimmte Abu zu, «das ist eine traurige, aber logische Entwicklung. Du weißt ja, die heiligste Stätte in Jerusalem wurde auf dem Moria
felsen
errichtet. Heutzutage nennen wir Araber unser größtes Heiligtum ‹
Felsen
dom›. Und Jesus sagte angeblich über Petrus: ‹Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen.› Könnte man daraus schließen, dass wir in religiösen Fragen alle Dickschädel sind?»
«Ojojoj. Bei meiner Seel.»
«Hast du dir je vorgestellt, wie anders die Geschichte dieser Religion hätte verlaufen können, wenn die Hügel bewaldet und grün gewesen wären? Mit etwas Zeit und Mühe kann man ja aus dem Holz eines Baumes eine Waffe schnitzen, aber ein Felsbrocken ist von vornherein eine. Palästina ist ein natürliches Waffenarsenal. Nein, Jerusalem steckt nicht zwischen den Mahlsteinen. Jerusalem ist der Mahlstein
selbst
.»
«Jerusalem sitzt seine Geologie im Nacken, okay. Aber Abu, sag mir: Es gibt irgendwo auf der Welt eine schönere Stadt? Sag mir, du wärst nicht voller Freude, wenn du heute Morgen spazieren gehen könntest in seine Straßen? Ha!»
Abu widersprach ihm nicht. «Das Licht, Spike, erinnerst du dich an das Licht?» Unbewusst fuhr sich Abu über seine leuchtende Nase. «Wir könnten in alle Ewigkeit hier sitzen und über die Steine jammern, aber es ist das goldene Licht von Jerusalem, das uns in seinem Bann hält, das uns immer wieder dorthin zieht. Ah, allein in diesem Glanz zu leben ist eine religiöse Erfahrung. Kein Wunder, dass unsere Brüder da unten durchdrehen. Selbst du und ich sind ein bisschen verrückt nach ihm. Es ist einen Zacken zu intensiv für die Seele.»
Während die Besitzer des I & I sich so die Zeit vertrieben, ging Ellen Cherry trübsinnig ihren Aufgaben nach. Jedes
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