Salomes siebter Schleier (German Edition)
nächsten Herbst eine Einzelausstellung an. Sie sollte in ihrer Galerie in SoHo stattfinden, da, wo die Action lief.
Ellen Cherry nahm die große Neuigkeit keineswegs gelassen auf. Tatsächlich machte sie auf dem Absatz kehrt und rauschte aus dem Apartment. Sie ging zur Bank, hob tausend Dollar ab und flog ohne Zahnbürste oder ein Unterhöschen zum Wechseln nach Virginia. Zwei Tage lang weinte sie sich an der Schulter ihrer Mutter aus. Dann kehrte sie, von Patsys Weisheit gestärkt, mit dem festen Vorsatz nach New York zurück, nicht nur Boomers Erfolg zu akzeptieren (so unverdient der auch sein mochte), sondern ihn während des Jahres, das ihm für die Vorbereitung seiner (unverdienten) Ausstellung blieb, auf jede nur erdenkliche Art zu unterstützen.
Bei ihrem überstürzten Abgang hatte sie vergessen, einen Schlüssel einzustecken. Als auf ihr Klopfen hin niemand öffnete, musste sie Raoul bitten, ihr die Wohnung aufzuschließen. Raoul wusste, dass Boomer seine Zelte abgebrochen hatte, sagte aber nichts. Seine Finger trommelten im Takt eines unhörbaren Rhythmus, und er sah Ellen Cherry nur an, als wüsste er, dass sie ein schmutziges Höschen trug.
Es gab keine Nachricht, keine Adresse, kein gar nichts. Fast ein Monat verging, bis sie erfuhr, dass Boomer ein Loft an der Bowery gemietet und sich einen neuen Ford gekauft hatte. Doch es dauerte nicht annähernd so lange, bis sie feststellte, dass er ihr gemeinsames Bankkonto aufgelöst hatte.
Als er schließlich im Ansonia auftauchte, war er weder verstockt noch trotzig. Er zupfte lediglich zwei- oder dreimal an seiner Baskenmütze, als er ihr mit ruhiger Stimme auseinandersetzte, es täte ihm ja leid, aber ihr guter alter Schweißer habe da ein paar andere Fische an der Angel, die er braten müsse und deren Aroma sie offensichtlich nicht vertrage. Sie konnte ihm nur beipflichten, meinte jedoch, dass sie sich an den Gestank gewöhnen und ihm möglicherweise sogar beim Filetieren zur Hand gehen könnte. «Auch wenn einer davon Ultima heißt?», fragte er. Sie biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf, fragte aber trotzdem, ob in seiner Pfanne nicht auch noch Platz für sie sei. «Wenn du dein Haar ein bisschen stutzt», witzelte er. Sie lächelte, biss sich aber weiter auf die Lippen.
In den folgenden Monaten machten sie mehrere halbherzige Versöhnungsversuche. Den Winter über bis ins Frühjahr hinein «verabredeten» sie sich, genossen die physische Präsenz des anderen auf der Tanzfläche oder im Bett, sprachen aber kaum je über ihr Problem. Vielleicht schämte sich Ellen Cherry einfach ihrer Gefühle zu sehr, um sie rauszulassen. Boomer dagegen hatte ein neues Leben begonnen – ein Leben, das eigentlich
sie
hätte führen müssen –, und je mehr er es vor ihr verbarg, desto reizbarer wurde sie. In ihren oberflächlichen Unterhaltungen wurde das Thema Kunst ausgespart, und als sie dann Anfang Mai doch einmal davon anfingen, kam es zu einem erbitterten Streit, der den Verabredungen ein Ende machte, Ellen Cherry auf der Suche nach einem Job ins Isaac & Ishmael’s und Boomer zurück in sein Loft auf der Bowery trieb, auf der Suche nach etwas, das ihn so sehr ängstigte (oder verwirrte), dass er es unbedingt an den Hörnern packen musste. Und nie, nicht ein einziges Mal, verriet er ihr, dass die fünfhundert in fünfhundert verschiedenen Codes abgefassten Botschaften in den fünfhundert Geheimtaschen alle genau dasselbe verkündeten. Nämlich: «Randolph Petway III liebt Ellen Cherry Charles.»
I & I
Sechs Monate später …
Ellen Cherry zerriss die Einladung zu Boomer Petways Ausstellung in tausend kleine Fetzen, die sie auf dem Couchtisch niederregnen ließ. Als sie sich dann aufs Sofa warf, um sich so richtig auszuheulen, verwandelte sich die eine Hälfte der Fetzen in Schneeflocken und die andere in Funken. Die Funken schmolzen die Schneeflocken, die Schneeflocken löschten die Funken – und aus der Dynamik ihres Zusammenspiels, dem Dialog zwischen Schneeflocke und Funke, dem Austausch von Energie zwischen dem Prozess des Schmelzens und dem des Löschens, entstand ein Schnipsel Wolfsmuttertapete.
Der Schnipsel war silbrig weiß wie Birkenrinde, an den Rändern ausgefranst und eingerollt, und wenn ein plötzlicher Windstoß durch die ausgefransten und eingerollten Ränder fuhr, erzeugte er ein Geräusch, das an ein flussab gleitendes Jagdkanu erinnerte, an kämpfende Papierdrachen, an kopulierende Schattenspieler, an einen Magier,
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