Salz der Hoffnung
schlechtes Gewissen zu machen? »Es ist nicht so, daß wir dich nicht haben wollen. Ich habe es dir doch schon erklärt: Nach unserer Ankunft werden wir eine Zeitlang bei Davids Eltern leben. Dorthin können wir dich nicht mitnehmen, es ist einfach unmöglich. Aber wir werden eine angemessene Unterkunft in London für dich finden, ehe wir aufbrechen. Und ein Mädchen, das sich um das Baby kümmert.«
»Du kannst ja auch zuversichtlich in die Zukunft blicken. Du hast David und seine Familie, die sich um dich kümmern werden. Ich habe niemanden!«
»Warum gehst du nicht zu Bett, Polly? Schlaf dich aus. Du regst dich über ungelegte Eier auf. Wer weiß, vielleicht lernst du London ja sogar noch lieben.«
»Ich werde es hassen«, heulte Polly.
Als sie etwa die Hälfte der Überfahrt zurückgelegt hatten, organisierte der Kapitän an einem Samstag abend ein Konzert, dessen Mitwirkende er unter den Passagieren und der Mannschaft gefunden hatte. Es hieß, es seien einige wirklich talentierte Leute an Bord, und alle freuten sich auf einen unterhaltsamen Abend.
Maria verspürte ein aufregendes Prickeln, als sie an der Seite ihres gutaussehenden Mannes den Salon betrat. Nun gab es wirklich kein Zurück mehr: England, das große, alte Mutterland, lag vor ihnen. Es kam ihr vor, als sei sie auf dem Weg nach Hause, um endlich ihr geregeltes Leben als Mrs. Collins aufzunehmen, fernab von allen Schrecken des Krieges. Sie betete, daß er bald vorüber sein möge, damit ihr Mann nicht zurückgeschickt würde.
Die Passagiere in ihrer eleganten Abendgarderobe drängten sich gutgelaunt in dem überfüllten Raum und nahmen ihre Plätze ein. Ein erwartungsvolles Summen hatte sich erhoben, und ein Streichquartett spielte spritzige, übermütige Melodien. Einige Passagiere der Unterdeck-Klassen hatten sich hinaufgeschlichen, um den Darbietungen zu lauschen. Sie standen an der Reling und sahen sich ängstlich um, doch die Offiziere gaben vor, sie nicht zu bemerken.
Endlich wurde es still im Saal. Der Zeremonienmeister trat vor und kündigte den ersten Konzertbeitrag an: zwei junge Männer, die Arien aus komischen Opern singen würden. Als sie vortraten, um dem Geiger ihre Notenblätter zu geben, ertönte von draußen ein Ruf der Verblüffung, dann Schreie und viele Stimmen, die durcheinanderriefen.
Sofort brach im Salon hektisches Treiben aus. Die Menschen sprangen in Angst von ihren Plätzen auf, rannten zu den Ausgängen. Die allgegenwärtige Angst vor einem Schiffsunglück brachte sie einer Panik bedenklich nahe.
»Bleib hier«, wies David seine Frau an und stürzte davon, doch sie folgte ihm, drängte sich durch die Menge und stieg über umgestürzte Stühle hinweg.
»Beruhigen Sie sich!« rief einer der Offiziere. »Es ist alles in Ordnung! Alles in Ordnung!«
Gerade als Maria hinausschlüpfte, nahmen mehrere Offiziere Aufstellung an den Türen zum Salon, hinderten die Passagiere daran, den Saal zu verlassen, und versicherten ihnen, es bestehe keine Gefahr.
Am Bug war eine Menschenmenge versammelt, Männer liefen umher, eine Frau fiel in Ohnmacht. Maria erblickte den Kapitän, der sich durch die Menge an Deck kämpfte. »Was geht hier vor? Was ist passiert?«
»Mann über Bord!« gellte eine Stimme. »Mann über Bord!« Und die Menge drängte näher an die Reling.
»Es war eine Frau!« rief einer. »In der Dunkelheit werden wir sie niemals finden. Eine Frau ist über Bord gefallen!«
Maria trat zum Kapitän und sah, wie ein Matrose ihn am Ärmel packte. »Sie ist nicht gefallen, Sir. Sie ist gesprungen. Ich hab’s gesehen. Ich schwör’s bei Gott. Sie ist über die Reling geklettert und einfach gesprungen, Sir.« Sein junges Gesicht wirkte bleich und verängstigt.
Eine Frau schrie: »Verrückt! Sie muß verrückt gewesen sein!«
Maria stand zwischen ihnen, verwirrt, erschüttert; aber es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, daß sie die Frau, die über Bord gesprungen war, kennen könnte. Sie glaubte, es müsse jemand von den furchtbar armen Leuten sein, die die Überfahrt in ihren überfüllten Quartieren unter Deck ertragen mußten. Sie starrte über die Backbordreling in die bodenlose Schwärze dort unten, nur gelegentlich unterbrochen vom weißen
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