Salz und Asche - Roman
das Bardowicker Tor offen, wegen der Hude. Aber bis wir um die Stadt herumgestolpert sind, ist auch das längst geschlossen. Lass uns zum Roten Tor zurückgehen. Wenn wir Glück haben, hat der Wachmann uns noch im Sinn gehabt und wartet.«
Sie hatten kein Glück. Das Rote Tor blieb ebenso fest verschlossen wie das Sülztor.
»Vielleicht, wenn ich um Hilfe schreie?«, schlug Susanne zaghaft vor. Allmählich nahmen Wind und Regen wieder
zu und riefen ihr ins Bewusstsein, wie kalt eine Nacht im Freien in ihrem durchnässten Zustand sein würde. Gar nicht zu reden von ihrer Gewissensnot. Nun hatte ihr Vater nicht nur um Regine Sorge, sondern erneut auch um Till und sie.
Till schüttelte den Kopf. »Hört bei dem Wetter niemand. Außerdem wäre es peinlich. Wenn du willst, gehen wir für die Nacht zu den nächsten Bauern oder in die Gertrudenkapelle auf den Friedhof. Wenn es nach mir ginge, würden wir allerdings einfach in der Seilerbude schlafen. Und sobald morgen früh das Tor aufgeht, sehen wir zu, dass wir nach Hause kommen.«
»Das passiert dir nicht zum ersten Mal, oder?«
»Nein. Aber das macht es nicht angenehmer. Wird kalt heute Nacht.«
Es wurde die längste Nacht in Susannes bisherigem Leben. Während Till auf dem feuchten Boden zwischen Hanf, Seilen und Seilerwerkzeug einschlief, saß sie wach und frierend da und behielt die Angst vor dem nächsten Tag nur mühsam im Griff. Sie weckte Till lange vor der Zeit und wanderte mit ihm bei Sonnenaufgang durch die schneidend frische Morgenluft um den Kalkberg herum zum Neuen Tor, von wo der Weg nach Hause am kürzesten war.
Weiß ragte der Berg mit der herzöglichen Festung darauf neben ihnen in die Höhe und gab Susanne das Gefühl, von strengen Blicken beobachtet zu werden. Hinter den Stadtmauern krähten die Hähne, und die ersten Sonntagsglocken läuteten. Eine Weile mussten sie noch vor den verschlossenen Torflügeln warten, bevor sie von einem missmutigen Torwächter eingelassen wurden.
Angespannt und schweigend eilten sie zur Böttcherei.
Ebenso schweigend öffnete ihr Vater ihnen die Haustür,
bevor sie zum Hof einbiegen konnten. Susanne versuchte, den Ausdruck seines blassen, unrasierten Gesichtes zu deuten, scheiterte jedoch. »Regine?«, fragte sie.
»Wurde eben gebracht«, antwortete er mit müder Stimme.
Susannes Herzschlag stockte. Angstvoll fasste sie nach dem Arm ihres Vaters und sah ihm in die Augen. Sie verrieten kein Mitgefühl. Er entzog ihr seinen Arm. »Sie war bei Lossius’. Schon gestern Abend erreichte mich ein Bote. Ich wusste somit, dass ich mich um sie nicht sorgen muss.« Sein von Schlaflosigkeit gezeichnetes Gesicht sprach den Vorwurf gegen sie deutlicher aus, als alle Worte es gekonnt hätten.
»Es tut mir leid, Vater. Wir haben sie bei der Bleiche gesucht, und als wir zurückkamen, waren die Stadttore geschlossen. Wir waren ausgesperrt.«
Eine kleine Regung in seiner Miene ließ sie hoffen, dass er sie verstehen würde, doch die Hoffnung zerschlug sich sofort.
»Wie seltsam, dass ihr außerhalb der Stadt gesucht habt, obwohl es einen viel wahrscheinlicheren und naheliegenderen Ort gab. Bist du sicher, dass ihr den Weg nicht vollends verloren hattet?« Er machte eine Pause und sah sie mit einem so verwundeten Ausdruck an, dass sich Susannes Herz zusammenzog. »Ach, Susanne. Gut, dass eure liebe Mutter das nicht mehr erleben muss.«
Auf einmal fühlte sie, wie Till ihr mit ruppigen Bewegungen ihren Überwurf abnahm. »Mutter hätte es verstanden. Noch mehr: Mutter hätte selbst eine Nacht in der Kälte vor der Stadt verbracht, wenn sie die Hoffnung gehabt hätte, Regine dort zu finden. Susanne hat nichts falsch gemacht.«
Ihr Vater trat einen Schritt zurück und wurde starr wie ein kampfbereiter Kater. »Wenn ich mit dir reden will, dann frage ich dich, Galgenstrick.«
»Was zum Teufel habe ich nun wieder getan? Kannst du nicht einfach glücklich sein, dass du deine Töchter gesund wieder hast, und Susanne erst einmal zu sich kommen lassen? Wir sind nass, frieren und haben Hunger und Durst. Was unterstellst du uns? Dass wir das getan haben, um dich zu ärgern?«
Die Hand ihres Vaters schoss mit erhobenem Zeigefinger vor. »Pass auf deinen Ton auf. Und geh nach oben, mit dir werde ich später reden. Susanne, du kommst mit in die Dornse. Lenhardt ist hier und außer sich vor Sorge um dich. Ebenso deine völlig verstörte Schwester.«
Tatsächlich hatte Susanne Lenhardt Lossius noch nie in so schlechtem Zustand
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