Salz und Asche - Roman
auch junge Frauen aus gutem Haus laufen so spät am Abend nicht allein und auf Strümpfen durch die Straßen«, gab er zurück.
Susanne sah auf Regines Füße und schloss die Augen. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass ihre Schwester keine Schuhe trug. Dankbar drückte sie Jans Hand, nachdem er Regine zu ihr zurückgeführt hatte. Gemeinsam brachten sie sie zum Haus, wo Lene ihnen entgegenkam. Susanne musste ihre Wut zügeln, um ihre Base nicht anzuschreien. »Wenn du sie noch einmal aus den Augen lässt, obwohl ich dich gebeten habe, achtzugeben, dann muss ich es Vater sagen.«
Lene nickte mit schuldbewusster Miene und ging mit Regine ins Haus. Das unglückliche Schweigen ihrer Schwester machte Susannes Herz schwer. Es war noch nicht oft vorgekommen, dass sie so aneinandergerieten. Sie würde es wiedergutmachen, nahm sie sich vor.
»Sind eure Männer da?«, fragte Jan leise.
Susanne schüttelte den Kopf und bedeutete ihm, ihr um die Hausecke hinter das Regenfass zu folgen. Es war ein kleines Wagnis, doch sie würde ihn jetzt nicht einfach wieder gehen lassen. Ihn bloß zu sehen ließ ihr Herz schneller schlagen. Dabei konnte sie nicht einmal beschreiben, was ihn in ihren Augen so schön machte. Und sie hatte ihm so viel zu erzählen.
Doch zum Erzählen kam sie vorerst nicht. Kaum waren sie um die Hausecke, zog er sie an sich und überrumpelte sie mit einem Kuss. Sie spürte, wie seine Bartstoppeln über ihr Gesicht kratzten, dann die Berührung seiner warmen Lippen. Gleich darauf schien nichts anderes mehr wichtig zu sein, als ihn zu spüren. Erst als sie beide außer Atem
waren und Susannes Knie zitterten, schob er sie ein wenig von sich. »Ich muss dich sehen und mit dir sprechen. Wann kannst du?«
»An den Abenden ist es schlecht. Regine ist so unruhig. Sie läuft fort, wenn ich nicht hier bin, und dann gibt es großen Ärger.«
»Wann dann?«
»Können wir reden, wenn ich am Vormittag in die Schmiede komme? Ich würde sagen, dass ich mich bei euch nach Albert erkundige. Und ich muss morgen ohnehin zur Schrangenstraße, um Fleisch zu kaufen.«
»Wenn du früh kommst, ist der Meister vielleicht noch bei der Morgensprak. Die Zunft bespricht sich dieser Tage immer recht lang. Sollte sich machen lassen, dass wir dann reden.«
Susanne neigte sich seinen Lippen entgegen, die ihr wortlos mitteilten, dass ihm Reden nicht genügte.
Diesmal war sie es, die ihn fortschob. »Mein Vater kommt sicher gleich zurück.«
Widerstrebend ließ er sie los, nur um sie gleich noch einmal so heftig zu umarmen, dass ihr die Luft wegblieb. Sie lachte leise. »Zerdrück mich nicht.«
Er lächelte auf eine scheue Art, als wäre es ihm völlig ungewohnt. Sein Gesicht strahlte, und seine Augen glänzten. »Es tut mir leid, was ich letztes Mal gesagt habe. Alles, was dich gekränkt hat. Ich will dir nicht wehtun, das musst du mir glauben.«
Susanne strich ihm über die Schläfen. »Ich glaube dir ja, aber jetzt musst du gehen.«
»Bist du mir also gut?«
»Mehr als gut. Ich kann nicht mehr schlafen, weil ich die ganze Nacht an dich denken muss.«
»Dann schlafen wir gemeinsam nicht. Sehe ich dich gewiss morgen?«
»Wahrscheinlich nicht, wenn mein Vater gleich heimkommt und dich hier erwischt.«
»Das siehst du jetzt ein?«
»Lass uns morgen darüber sprechen.« Noch eine Umarmung, noch ein Kuss, dann spähte sie um die Ecke, um zu sehen, ob der Weg frei war, und begleitete ihn zur Straße. Er ging zügig, ohne sich noch einmal umzusehen. Susanne blieb traurig und erleichtert zugleich in der Durchfahrt stehen und sah ihm nach. Den Passanten, der in diesem Moment an ihr vorüberging, nahm sie zuerst kaum wahr. Doch der Anblick seines braunen Rockes, der dunklen Filzkappe und des Gehstocks, den er in der Hand trug wie ein Amtsabzeichen, rüttelte sie auf. Es musste sich um den Diener des Kinderhändlers handeln, von dem Jan ihr erzählt hatte. Unwillkürlich raffte sie ihre Röcke, um ihm zu folgen, da hielt die Vernunft sie zurück. Wenn ihr Vater sie nicht zu Hause vorfand, würde sie es am nächsten Tag vielleicht nicht wagen dürfen, zur Schmiede zu gehen. Bevor sie sich kopflos darauf einließ, einen fremden Mann durch die Stadt zu verfolgen, sollte sie zudem hören, was Jan herausgefunden hatte. Es war ihr zuwider, dass sie so wenig unternehmen konnte. Doch noch mehr würde es sie ärgern, wenn sie durch einen dummen Fehler die ganze Sache verdarb. Kathis Warnung klang ihr noch im Ohr. Nächstes Mal, wenn du kommst und
Weitere Kostenlose Bücher