Salz und Asche - Roman
Gedächtnis für Gesichter habe!«, rief er Jan nach.
Da die beiden Männer ihm langsam folgten, blieb Jan auf dem Gelände der Hude nicht noch einmal stehen. Selbst dann nicht, als er aus dem Obergeschoss der Warborch Kinderstimmen singen hörte. Fieberhaft suchte er nach einer Möglichkeit, das Geschehen auf der Hude ungesehen weiter zu beobachten, doch ihm fiel nichts ein.
Er sah sich kurz über die Schulter um. Rieger verabschiedete sich gerade vom Hudenvogt. Jan ging langsamer. Der
unangenehme Mensch sollte nicht glauben, dass er eine Auseinandersetzung fürchtete. Und wollte er ihn überholen, so sollte er das möglichst rasch. Doch Rieger schien weder das eine noch das andere vorzuhaben, denn am Stadttor hatte er ihn noch immer hinter sich. Jan sah sich kein weiteres Mal nach ihm um. Hatte Rieger durchschaut, dass er ihm zur Hude gefolgt war, und wollte nun den Spieß umdrehen? So geschmeidig, wie das Lügen zu ihm zurückgekehrt war, kehrten auch die Instinkte zurück, die er als Junge gebraucht hatte, um zu überleben. Er durchquerte das Tor, beschleunigte seinen Schritt, bog zur Nicolaikirche ab und drückte sich dort hinter einen der äußeren Strebepfeiler. Rieger hetzte um dieselbe Kurve, suchte ihn und begegnete seinem Blick. Sogar aus zehn Schritt Entfernung war zu sehen, dass der rundliche Bedienstete errötete.
Jan hätte beinah gelächelt, weil der Mann so leicht aus der Fassung zu bringen war. Er nickte Rieger zu und ging den Weg zurück, den er gekommen war, bog dann aber zum Marktplatz ab. Hinter der nächsten Hausecke wartete er wieder, und tatsächlich tauchte auch Rieger auf. Diesmal allerdings suchte der Mann nicht nach ihm, sondern ging über den Marktplatz weiter. Noch einmal lief Jan ein Stück seines Weges zurück. Erst in der schmalen Gasse entlang der Bardowicker Mauer ging er langsamer und dachte nach.
Wenn Kowatz und Rieger in Diensten des reichen Herrn von Waldfels standen, konnte er ihnen wenig anhaben, ohne sich in Schwierigkeiten zu bringen. Was den Mord an Wenzel betraf, hatte er nicht mehr als den Verdacht, dass die beiden darüber Bescheid wussten. Und wer würde ihm glauben, wenn er den Herrn des Kinderhandels beschuldigte? Zumal, wenn es keine Eltern gab, die den Verlust ihrer Kinder beklagten.
Möglicherweise gab es hier einen Zusammenhang mit den toten Främckes. Hatte die Eltern Reue gepackt, nachdem sie die Kinder verkauft hatten? Das hätte erklären können, warum Kowatz den Wenzel aus dem Weg haben wollte. Doch da er die Tat abstritt, sollte Jan den Mörder womöglich an ganz anderer Stelle suchen. Und dazu würde er schnellstens tun müssen, was er schon längst hätte tun sollen. Für heute war es zu spät, aber morgen wollte er die erste Gelegenheit nutzen, um Albert im Turm zu besuchen. Es war schwer vorstellbar, dass sein Handwerksgenosse nicht mehr über die ganze Angelegenheit wusste, als er bisher zugegeben hatte.
Jans Schritte hatten ihn bis zu den ärmlichsten Buden der Gasse getragen. Schweine- und Hundekot, Staub und Unrat hatten sich durch den Regen zu einem ekelhaften Schlamm vermengt. Die Kinder hielt das nicht vom Spielen ab. Sie tobten, fielen und standen besudelt wieder auf. Man konnte nicht sagen, dass sie es gut hatten. Die meisten von ihnen kannten vermutlich Hunger, Schläge und Kälte. Aber sie hatten ein Zuhause, hatten ihre Winkel, wo sie sich verkriechen konnten, liebgewonnene Spielkameraden und vielleicht den einen oder anderen Erwachsenen, der es gut mit ihnen meinte. Und wenn Jan nach seiner eigenen Erfahrung ging, dann hingen sie auch an den Vätern und Müttern, von denen sie nicht allzu gut behandelt wurden. Sein Vater war ein verstockter Mann gewesen, der ihm nie Zuneigung gezeigt hatte, trotzdem hatte sein Tod ihn als kleines Kind schwer getroffen. Wenn auch nicht ganz so schwer, wie er seine Mutter getroffen hatte.
Die Tür zur Bude der Altkleiderhändlerin mit den rachitischen Kindern stand offen. Die Frau saß auf einem Schemel vor der Hauswand und flickte eine Hose, neben sich
einen Korb voll zerrissener Lumpen. Sie sah nicht auf, als er vorüberging, und er grüßte nicht.
Nachdem er sich an der Ecke zur Straße der Reitenden Diener vergewissert hatte, dass Rieger ihm nicht doch noch gefolgt war, stand er vor einer Entscheidung. Ging er an dieser Stelle geradeaus, gelangte er auf dem kürzesten Weg zurück zur Schmiede. Ein kleiner Umweg dagegen brächte ihn zum Büttnerschen Haus.
Er musste nicht lange
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