Salzige Küsse
starrte, ihn Buchstabe für Buchstabe las, wurde Eve klar, dass sie endlich wusste, wie die Frau, die hier gewohnt hatte, wirklich hieß. Belle. Nicht einfach Anna, wie Linde und Lies sagten, oder Annabelle, wie ihr Vater sie nannte. Belle. Ein schöner Name, mit einem schönen Klang.
»Warum trödelst du so? Mach sie endlich auf!«
Eve drückte die Briefe an ihre Brust. »Sie heißt Belle.« Jetzt, da sie den Namen aussprach, war es, als würde die Frau greifbarer werden. Was, wenn Belle auch die Frau auf dem Foto war? Was, wenn die Briefe erzählten, warum sie so traurig schaute? Das ging Max überhaupt nichts an.
Eve warf ihrem Bruder einen flehenden Blick zu. »Es interessiert dich bestimmt sowieso nicht, warum lässt du sie mich nicht zuerst lesen?«
»Warum sollte es mich nicht interessieren?«
»Das Foto interessiert dich doch auch nicht? Weiberkram nennst du das. Das ist auch Weiberkram, denn Männer hebenkeine Briefe auf.« Eve hielt den Atem an. Ob Max nachgab? Oder würde er auf seinem Recht bestehen?
Eve sah, dass er schwankte, also fuhr sie schwereres Geschütz auf. »Du willst doch all die vielen Briefe nicht lesen. Lass mich erst mal in Ruhe schauen und dann kannst du sie dir danach immer noch ansehen.«
Max starrte zweifelnd auf die Ladung Briefe in Eves Schoß. Er war kein großer Leser. »Okay, okay, du zuerst. Aber du sagst mir, was drinsteht. Und wenn ich sie dann auch lesen will, darf ich das. Abgemacht?«
Eve nickte eilig und rannte mit ihrem Schatz aus dem Zimmer, bevor Max seine Meinung womöglich noch änderte. Sie breitete die Briefe auf ihrem Bett aus und schaute sie sich an. Wo sollte sie anfangen? Viel Zeit, darüber nachzudenken, blieb ihr jedoch nicht. Mama kam nach oben. Eve hörte sie mit Max reden und gleich danach ertönte ein schauerlicher Schrei. Mama hatte die Mäusereste entdeckt.
Mehr als zwei Jahre konnten Lukas und ich auf unserer Wolke schweben. Juul gedieh prächtig und Mama und Papa waren glücklicher denn je. Ich war glücklicher denn je
.
Bis die Gerüchte kamen. Über Krieg, kämpfen, Deutschland, Hitler. Ich wollte die Wirklichkeit nicht hören, also hielt ich mir jedes Mal die Ohren zu und sang ganz laut, wenn Lukas davon anfing. Wir wussten, dass es uns bevorstand. Aber ich verschloss die Augen davor und schwebte noch eine Weile, bis ich endlich bereit dafür war
.
Als mich die schmerzhafte Wirklichkeit in Form von Lukas’ Einberufungsschreiben einholte, stand ich plötzlich mit beiden Beinen auf dem Boden. Ich war bereit. Ich wusste, dass es sein musste, für Lukas. Ich konnte ihn nicht im Stich lassen. Ich durfte nicht schweben, während er im Schlamm steckte
.
Also half ich beim Packen, tröstete und beruhigte ihn. Wir besuchten unsere Lieblingsorte und sagten einander immer wieder, wie sehr wir uns liebten und wie oft wir uns schreiben würden. Wie schnell wir uns wiedersehen würden. Ich versuchte daran zu glauben. Für Lukas. Für uns. Ich tat alles. Ich tat noch mehr. Ich versuchte auch denSchmerz, der sich jammernd durch meinen Körper wand, zu ignorieren. Das Leben musste weitergehen
.
Als Lukas an einem warmen Septembertag wegging, winkte ich ihm mit Juul auf dem Arm am Bahnsteig nach. Sie weinten dicke Tränen, meine beiden Männer. Das konnte ich erst, als mich keiner sah, allein in meinem Zimmer, das allererste Foto von damals in Händen
.
Ich verglich es mit dem Foto, das Lukas’ Vater vor einer Woche von uns gemacht hatte. Als Erinnerung, hatte er gesagt. So gut es sicher gemeint war – es wirkte unglaublich unheilvoll. Das sah man auch an dem verkrampften Lächeln, das wir beide aufgesetzt hatten. Außerdem fehlte auf diesem Foto die Strandaster in der rechten oberen Ecke. Auf alle Fotos, die ich von Lukas bekommen hatte, hatte er diese Blume gezeichnet. Weil ich kein Mädchen für Rosen war, sagte er jedes Mal, wenn ich danach fragte. Sogar auf dem allerersten Foto in dem Silberrahmen war eine Strandaster gezeichnet
.
Ich blätterte durch meine Sammlung, bis ich bei meinem Lieblingsfoto angelangt war. Es war eine Außenaufnahme auf einer Weide voller Strandastern, an meinem sechzehnten Geburtstag. Man konnte Momente nicht einfangen, das wusste ich. Aber man konnte es zumindest versuchen. Und das war bei diesem Foto besonders gut gelungen
.
Jeden Tag schrieb ich treu einen Absatz an Lukas. Am Ende der Woche warf ich den Brief ein. Es war zu meinem Sonntagsritual geworden, mir einen schönen Schlusssatz auszudenken, mit unendlich
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