Salzige Küsse
getan, wenn ich damals gewusst hätte, dass ich nie mehr wirklich in die Welt würde zurückkehren können? Ich werde es niemals wissen, aber es mich immer fragen. Hätte ich aufgehört, als es noch ging? Oder war aufhören einfach nicht möglich?
Lies starrte auf die Kiste mit den Umschlägen. Eve hatte nicht gewusst, was sie mit den Briefen machen sollte. Früher hätte sie sofort zum Telefon gegriffen, um Eileen anzurufen. Jetzt hatte sie nach langem Zögern Lies’ Nummer gewählt. Die hatte gleich neugierig und verständnisvoll reagiert und Eve war mit den Briefen Richtung D E D REEF gefahren, um ihr die ganze Geschichte zu erzählen, einschließlich Mäuseleiche.
»Igitt«, schüttelte sich Lies nachträglich. »Wer weiß, was hier so alles unter dem Fußboden liegt. Zeigst du mir den Ring noch mal?«
Eve streckte die Hand aus und Lies studierte aufmerksam das Schmuckstück daran. »Darf ich ihn mal anprobieren?«
Eve zögerte kurz, dann zog sie den Ring von ihrem Finger. »Klar.«
Der Ring war zu groß für Lies und Eve war insgeheim froh darüber, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ.
Lies warf noch einen letzten Blick darauf, bevor sie den Ring über Eves Finger schob. »Bis dass der Tod uns scheidet«, fügte sie feierlich hinzu.
Eve kniff die Hand kurz zusammen, sodass der Ring zurück an seine vertraute Stelle rutschte. Sie schaute wieder zu der Kiste mit den Briefen.
Inzwischen kam Ben herbeigewatschelt und ließ sich neben Eve plumpsen. Fröhlich versuchte er ihre Locken zu entwirren, was aber nur das Gegenteil bewirkte. Schließlich zog Lies ihn weg. Sie wedelte mit einem Spielzeug vor seiner Nase herum, aber Ben ließ sich nicht ablenken.
»Kinder.« Lies verdrehte die Augen, während sie ihren kleinen Bruder zurück zu seiner Spieldecke trug. Sie hielt ihm ein anderes Spielzeug hin, nach dem Ben schließlich gierig griff.
»Zurück zu den Briefen«, sagte Lies entschieden. »Meintest du das ernst, hast du sie wirklich noch nicht gelesen?«
Eve hielt den Kopf schräg. »Ich habe ein paar gelesen.«
»Und?« Neugierig schaute Lies auf den Stapel.
»Es sind Liebesbriefe.«
»Also äußerst interessante Lektüre!«
Eve sagte nichts. Sie hatte die Briefe in einem Rutsch verschlungen. Aber sie schämte sich dafür. Als würde sie im Privatleben einer Fremden herumschnüffeln. Als würde sie mit jemandem mitfühlen, ohne die Erlaubnis dafür bekommen zu haben.
»Sind sie lang?«
Eve reichte Lies einige Briefe. Ein paar Seiten weiter schaute Lies auf. »Das ist so echt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir ein Junge jemals so etwas schreiben würde. Das kann nicht jeder, Eve. Eigentlich ist es Literatur, Liebesliteratur. Wie machen sie das? Warum gelingt es uns nicht?«
»Warum sollte es uns nicht gelingen?«
»Jaja, du hast leicht reden, du bist verliebt!« Lies blätterte energisch durch die Briefe und zitierte:
»Gestern waren meine Cousinen zu Besuch da. Ein ganzes Haus voll kichernder Mädchen, ich konnte abends kaum einschlafen. Ich vermisste Dich dadurch nur noch mehr. Nach zwanzig Worten hatten sie mich immer noch nicht verstanden, während Du schon nach einem halben Wort Bescheid weißt. – Habe gestern ein hübsches Häuschen entdeckt, ich sah uns schon darin wohnen. Ach, die ärmlichste Hütte ist eine Villa, solange ich dort nur mit Dir leben kann. Du bist mein Zuhause. – Heute Nacht habe ich zusammen mit meinem Vater die Sterne betrachtet. Er hat bestimmt zehn Sternschnuppen fallen sehen, ich nur eine einzige. Aber diese eine reichte, ich habe ja auch nur einen Wunsch: gemeinsam mit Dir alt werden.«
Feierlich faltete Lies die Briefe zusammen. »Wie schön, keiner der Jungen, mit denen ich bisher zusammen gewesen bin, wäre auch nur auf die Wörter gekommen.«
»Vielleicht bist du deswegen nicht mehr mit ihnen zusammen.«
»Denkst du, dass dein Jacob diesen Briefen das Wasser reichen kann? Sei ehrlich!«
Eve spürte, wie sie rot wurde. Sie dachte zurück an die Nacht auf dem Deich und nickte dann heftig. »Ganz bestimmt.«
»Ach ja, die Liebe. Ich hoffe es für dich. Und ich hoffe es auch für mich, denn dann gibt es sie ja vielleicht wirklich, solche Jungen.«
Eve streckte ihr die Zunge raus, lachte aber gleichzeitig. »Bestimmt ist dieser Lukas ganz hässlich.«
»Meinst du? Sind keine Fotos dabei?«
Eve schüttelte den Kopf und zeigte auf das Porträt. »Wenn das Belle ist, sieht sie jedenfalls furchtbar unglücklich aus. So perfekt kann ihre Liebe dann
Weitere Kostenlose Bücher