Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
Mann um, und kurz bevor das Streichholz wieder ausging meinte er, ein Gesicht erkannt zu haben.
„Von Görenczy! Sind Sie das?“ Das Stöhnen wurde zum Fragelaut. Delacroix schüttelte die schlaff daliegende Gestalt und bekam ein schmerzhaftes Zischen zur Antwort.
Nur noch zwei Hölzchen. Eines würde er brauchen, um das Seil zu sehen, das McMullen ihm hoffentlich bald herunterließ. Er ließ sich nieder und entfachte eine weitere Flamme.
Diesmal konnte er seinen einstigen Waffengefährten deutlich erkennen. Es war Leutnant von Görenczy, den man ihm bei seinem letzten Auftrag als Verbindungsoffizier zur Seite gestellt hatte. Sein Gesicht war zerkratzt, und eine verschorfte Wunde erstreckte sich von seiner Schläfe ins Haar. Spuren getrockneten Blutes klebten auf seiner Stirn. Seine Augen waren halb geöffnet. War er schwer verletzt? Oder erwachte er gerade?
„Delacroix?“ hustete er. Seine Stimme war heiser und kaum erkennbar. „Ich träume ...“
Er schloß die Augen. Das Streichholz erlosch.
Udolf von Görenczy war Leutnant der Bayerischen Chevaulegers. Er war schon früher auf geheime Mission geschickt worden, also konnte man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß er hier nicht Urlaub machte. Delacroix fragte sich, ob die verschiedenen Länder des Deutschen Bundes sich gegenseitig bespitzelten. Vermutlich ja, und das Zusammentreffen eines angedeuteten Geheimnisses, eines bayerischen Agenten und Offiziers und des Verschwindens von Menschen gab der Vermutung Anlaß, daß er direkt in ein Abenteuer gestolpert war.
Der Bayer war anscheinend auch in die Grube gefallen und hatte sich im Gegensatz zu Delacroix verletzt.
„Wie lange sind Sie schon hier? Sind Sie schwer verletzt?“ fragte Delacroix in die Finsternis. Erst nach einigen Augenblicken kam eine Antwort.
„Sind Sie wirklich da?“ war die heisere Stimme wieder zu hören. Sie klang skeptisch.
„Ja, und ich werde Sie hier herausholen. Also reißen Sie sich zusammen. Wo sind sie verletzt?“
„Ein, zwei Rippen geprellt oder gebrochen, und den Kopf habe ich mir angehauen. Dafür muß ich ein Talent haben. Keine ernste Verletzung. Bin hier schon ein paar Tage. Weiß nicht.“ Die Sätze machten seine Verwirrung deutlich. Doch er klang schon etwas besser. Erst jetzt hörte Delacroix, daß an der Wand, an der von Görenczy lag, Wasser herablief. Dieses Wasser mußte die letzten Tage alles gewesen sein, was er zu sich genommen hatte. Kein Wunder, daß er verwirrt und schwach war.
„McMullen holt gerade ein Seil“, versicherte Delacroix Udolf. „Ich werde Sie hier herausholen. Wer ist der Tote?“
„Ich weiß nicht. Er war schon vor mir hier. Verdammt langweilige Gesellschaft.“
Delacroix hatte keine Streichhölzer mehr, um den Toten zu inspizieren, der sich die Grube mit ihnen teilte. Vielleicht konnte McMullen mit seinem Talent mehr herausfinden. Sich und Udolf aus dem Loch zu holen war von höherer Priorität. Dem Toten konnten sie nicht mehr helfen.
„Können Sie aufstehen?“
Er ertastete von Görenczys Arme.
„Ich werde es schon schaffen“, erwiderte der und nahm Delacroix‘ Hände. Delacroix zog ihn vorsichtig hoch.
Der jüngere Man gab einen Schmerzenslaut von sich. Gebrochene Rippen waren keine gefährliche Verletzung, wenn man sie sich nicht gerade in die Lunge bohrten. Doch sie taten grausam weh. Delacroix wußte es aus eigener Erfahrung. Aber von Görenczys Lunge hatten keinen Schaden genommen, sonst wäre er schon tot. Immerhin, Mangel an Nahrung und Hoffnung konnte einen auch schwächen. Doch das ließ sich leicht beheben.
Nun stand Udolf auf seinen Füßen, schwankte leicht, und Delacroix stützte ihn. Das Manöver wurde dadurch schwieriger, daß der Engländer so groß war. So zog sich der Bayer nach einigen Moment dann doch aus dieser vertraulichen Umarmung zurück.
„Wie ...?“ fragte er, und sein unfertiger Satz klang ein wenig klagend.
Delacroix wußte, was er meinte. Wie würden sie hier rauskommen? Eine gute Frage. Er hoffte, McMullen würde bald zurückkommen, ein Seil dabei haben und außerdem stark genug sein. Von dieser Hoffnung abgesehen konnte er die Frage auch nicht beantworten. Er steckte genauso in der Grube fest wie sein Ex-Kollege.
„McMullen wird sich etwas einfallen lassen. Keine Sorge. Versuchen Sie einfach, nicht wieder umzukippen.“
„Ich habe nicht vor, mich wieder flachzulegen.“
Es gab eine Menge, was Delacroix Udolf fragen wollte. Doch jetzt war nicht der richtige
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