Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
Weile gewöhnt. Er hatte ihn inspiziert. Ein Mann mittleren Alters. Der Sturz hatte ihm das Genick gebrochen. Wahrscheinlich war er sofort tot gewesen. Er hatte den Mann durchsucht. Ausweise hatte er nicht dabei gehabt. Das einzig Interessante waren ein Baedeker über Österreich und eine grob gezeichnete Umgebungskarte gewesen.
Er spürte Delacroix‘ Arme. Der Mann gab sich Mühe, ihm die Rippen nicht allzu sehr zusammenzudrücken. Vermutlich wußte er, wie sich solch eine Verletzung anfühlte. Dennoch hielt er ihn sicher, wie ein Liebhaber. Auf peinliche Weise war es fast beschützend. Aber von Görenczy waren Peinlichkeiten im Moment einerlei. Er wollte nur raus hier.
Die Luft veränderte sich. Er spürte den Nachtwind. Der Geruch des toten Körpers unter ihm nahm ab. Er hatte ihn schon eine Weile nicht mehr bewußt wahrgenommen, doch jetzt bemerkte er, daß der Geruch immerzu in seiner Nase gewesen war.
Sie brauchten ein paar Augenblicke, um ihre Beine auf den Boden zu bekommen. Irgendwie waren sie zu eng ineinander verstrickt. Schließlich rollten die Männer von dem Überhang fort über den Boden. Er gab ein Zischen von sich, als der Brite über ihn hinwegrollte.
McMullen befreite sie von dem Seil. Sie lagen keuchend auf dem Fels. Dann stand Delacroix auf und streckte ihm die Hand hin. Udolf ließ sich hochhelfen. Seine Beine waren steif, doch er fühlte sich sehr viel besser.
„Danke“, sagte er und achtete darauf, seine Stimme fest und stark klingen zu lassen. „Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Ich ...“
„Wir wollen zum Boot gehen“, unterbrach McMullen. „Höflichkeitsfloskeln müssen warten. Sie waren in einer magischen Falle. Es ist möglich, daß Ihr Entkommen bemerkt wurde. Können Sie gehen?“
„Ja. Ich denke schon. Natürlich.“
„Ich kann Ihnen helfen“, versicherte Delacroix. „McMullen hat Recht. Wir sollten uns beeilen.“
Sie kletterte über die Felsen zu dem Ort, an dem der Pfad zurück über den steilen Hügelkamm und danach zum Toplitzsee führte. Udolf hatte sein Boot in den Büschen versteckt, so gut es ging, doch vermutlich hatten sie es trotzdem gefunden. Es gab nicht viele Möglichkeiten, an diesem Ende des Toplitzsees etwas zu verstecken. Es war ein regnerischer Sommer gewesen. Der Wasserstand der Seen war ungewöhnlich hoch, und damit war die Anlegefläche für Boote noch mehr zusammengeschrumpft.
Er fand es unglaublich, daß niemand nachgesehen hatte, was sie da gefangen hatten. Unfaßbar. Wenn das, was seine Auftraggeber argwöhnten, tatsächlich zutraf, dann sollte man immerhin annehmen, daß die Leute, die auszuspionieren er geschickt worden war, an jedem, der sich in ihr Gebiet verlief ein ganz außerordentliches Interesse haben müßten. In ihrer Situation hätte er zumindest versucht, Gefangene zu befragen.
Vielleicht hatten sie das ja noch vorgehabt. Eventuell wollten sie einfach so lange warten, bis er schwach und mürbe genug war, um keine Gegenwehr mehr zu leisten. Er hatte keine Zweifel, daß er bei einem Verhör weitaus zugänglicher gewesen wäre, als er mit seiner Ehre hätte vereinbaren können, wenn er noch länger dort unten geblieben wäre. In der Tat hätten sie ihn jedoch vielleicht bald nicht so sehr zugänglich als vielmehr ziemlich tot gefunden.
Böser Gedanke. Er strauchelte, und Delacroix ergriff seinen Arm. Seine Knie waren noch wackelig. Er mußte sich konzentrieren, damit sie nicht nachgaben und er sich einfach auf den Boden setzte. Er war Leutnant der Chevaulegers. Sein Regiment, das Königlich Bayerische 3. Chevaulegers-Regiment Herzog Karl-Theodor, war für seine draufgängerischen Soldaten bekannt. Schwäche zeigte man nicht. Unter keinen Umständen. Nie – und schließlich war ihm ja auch nicht viel geschehen. Ein bißchen Hunger, Durst, Todesangst und Verzweiflung – das war gar nichts, und seine Wunde war auch nicht mehr als ein Kratzer.
Der Weg zum Toplitzsee erschien ihm länger als zuvor. Auf dem Hinweg waren es nur ein paar Minuten gewesen, vielleicht eine Viertelstunde. Dabei hatte er noch seine Malausrüstung getragen, obgleich der Trampelpfad durch den Bergwald, erst steil auf den Hügel, dann wieder steil hinunter, nicht so einfach zu meistern war, wenn man Staffelei und eine Leinwand auf dem Rücken trug. Alles, um seine Tarnung als Landschaftsmaler aufrechtzuerhalten.
Gemalt hatte er immer gern, und er konnte es recht gut. Als man ihn in die Berge geschickt hatte, um dort stunden- und tagelang auf eine
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