Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
manipulieren, unterschätzt. Oder sie hatten Glück. Thorolf Maximilian war so vollständig menschlich, wie man es sich nur wünschen konnte. Seine Ohren waren rund, Blut zu trinken wäre ihm nie in den Sinn gekommen, und er war auch nicht ein bißchen tagblind. Er war ein normales Kind, vielleicht ein wenig anmutiger und wilder als andere, doch zumindest letzteres mochte an dem frühen Dahinscheiden Herrn Treynsterns liegen.
Einundzwanzig war er jetzt und sah unglaublich gut aus. Er hatte ihr Kastanienhaar geerbt, ihre grauen Augen und ihr Interesse an Kunst. Von seinem Vater hatte er den schlanken Körperbau, die elegante Art, sich zu bewegen, sein Lächeln und das aristokratische Profil. Ganz offensichtlich war sein Weg mit gebrochenen Mädchenherzen gepflastert. Bis jetzt hatte er Glück gehabt, daß kein wirklich schlimmer Skandal ihn zu einer Verehelichung oder noch schlimmer zu einem Duell gezwungen hatte. Sie versuchte immer wieder, ihm ins Gewissen zu reden, doch ihre Ratschläge waren ihm nur lästig. Vermutlich glaubte er nicht, daß seine verwitwete Mutter etwas über die überwältigenden Gelüste des Fleisches wissen konnte.
Torlyn war ihn einmal besuchen gekommen. Ein Jahr nach Luitpolds viel zu frühem Tod stand er auf einmal in der Tür, nicht um sie zu besuchen, sondern um das Kind zu sehen. Die ganze Nacht hatte er neben dem Bettchen gesessen und dem Knaben beim Schlafen zugesehen. Am Morgen war er gegangen. Vorher hatte er noch gesagt, daß sie keine Angst haben mußte. Ihr Sohn hatte fast nichts von einem Feyon, er war fast vollkommen Mensch. Er hatte ihr geraten, dem Buben nichts über seine Herkunft zu sagen und versprochen, ihm die Wahrheit selbst zu erläutern, wenn er erst alt genug war, sie zu begreifen.
Bisher hatte er das nicht getan. Sophie war dankbar dafür, denn sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie ihr eigensinniger Sohn auf die Nachricht reagieren würde, daß er außerhalb des Ehebetts von einem Vampir gezeugt worden war. Vielleicht würde sie ihn verlieren. Das würde ihr zum zweiten Mal das Herz brechen.
Sie drehte sich um. Sie sollte besser schlafen. Es war ein beschwerlicher Tag gewesen. Cérise anzusprechen hatte sie einige Überwindung gekostet, und die Fahrt war wie alle durchs Gebirge rauh und unbequem gewesen. Sie hatten sich nur eine kurze Pause bei der St.-Leonhard-Kapelle am Paß gegönnt. Dort hielten alle Gefährte an, um für eine sichere Reise zu beten. Cérise und sie selbst hatten eine Kerze entzündet. Beide waren katholisch.
Corrisande war in der Zeit spazieren gegangen. Sie hatten sie an einer Quelle kniend gefunden, ihre Hände im eiskalten Gletscherwasser. Ihr Blick war weit ins Leere gerichtet gewesen.
Sie machte sich Sorgen um die junge Frau. Sie wirkte so zart und zerbrechlich und litt offenbar erheblich unter den Begleiterscheinungen einer frühen Schwangerschaft. Sie sah aus, als sei sie nicht älter als bestenfalls achtzehn, eine sehr junge Gattin für den mysteriösen Mr. Fairchild.
Doch Corrisande klang nicht wie ein junges Mädchen. Sie machte den Eindruck, als wisse sie genau, was sie tat, und es stand Sophie nicht zu, sich einzumischen. Wenn die junge Frau glaubte, dies tun zu müssen, dann mußte sie es tun. Sophie hoffte nur, daß die werdende Mutter sich nicht übernahm.
Sie hörte die Tür des andern Zimmers gehen. Noch jemand war wach. Vielleicht Corrisandes charmante Kammerzofe. Oder nicht? Es ging sie nichts an. Sie sollte einfach schlafen. Schließlich wäre es peinlich, jemanden beim Besuch der Örtlichkeiten über den Hof aufzuhalten. Besser, man ignorierte das, und dazu war sie auch entschlossen. Im nächsten Augenblick stand sie auch schon, fuhr leise in Morgenmantel und Pantoffeln und schlich aus dem Zimmer.
Corrisande saß – ebenfalls im Morgenmantel – auf dem Boden im Korridor. Neben ihr brannte eine Kerze. Ihre nußbraunen Locken fielen ihr über die Schultern. Sie trug kein Nachthäubchen. Ihre himmelblauen Augen wirkten übergroß in dem blassen Gesicht. Feingliedrige nackte Füße hatten sich aus den Hausschuhen gestohlen.
„Mrs. Fairchild! Was tun Sie denn hier? Geht es Ihnen nicht gut?“
Die auffälligen Augen fingen sich in ihrem Blick, doch die junge Frau machte keine Anstalten aufzustehen.
„Ich hatte einen Traum“, sagte sie nach einer Weile. „Ich mußte ein paar Schritte gehen. Doch dann wurde mir schwindlig.“
Sophie setzte sich neben sie. Auf dem Flur gab es keine Stühle. Die Dielen waren
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