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Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Titel: Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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Musik der Berge konnte er sich nicht erinnern. Ein ferner Dudelsack, der ein Klagelied durch ein Tal schallen ließ, war das, was seiner Vorstellung von Bergmusik am nächsten kam. Wieder versuchte er, sich daran zu erinnern, warum er das eben gedacht hatte. Bergmusik. Wenigstens ein Lied sollte ihm doch einfallen.
    Ein paar Verszeilen kamen ihm in den Sinn, und er klammerte sich an ihnen fest wie ein Ertrinkender an einer Rettungsleine. „Ohne Zurück – setzt‘ ich aufs Glück – fand dessen Segen – auf meinen Wegen – doch ohne ein Wort – ging es fort, weit fort.“
    Er erinnerte sich an die Melodie und begann, sie zu summen. Sie schallte durch das Dunkel um ihn herum. Plötzlich schien er noch einsamer zu sein. Ein Lied war ihm eingefallen, es war da, bei ihm, und verlieh seinem Erinnerungsvermögen Gehalt. Als er klein war, hatte er dieses Lied gelernt, und das war noch nicht lange her. Er war immer noch jung, zu jung, um allein in der Dunkelheit begraben zu liegen und den Liedern der Berge zu lauschen.
    Ihm wurde klar, daß er Grund hatte, sich zu fürchten, denn so allein war er noch nie gewesen. Doch er war auch noch nie so wenig allein gewesen. Etwas Fremdes kratzte an seinen Gedanken, machte sich in seinem Geist breit, verlangte nach Platz in seinem Körper und berührte alles, was er war.
    „Wer bist du?“ fragte er, und die geheimnisvollen Felswände warfen seine Frage zurück.
    „Du … du … du …“
    „Warum?“
    „Drum … drum … drum …“
    Er suchte in seiner Erinnerung nach seinem Namen, stolz, daß ihm eingefallen war, daß er einen haben mußte, und summte wieder sein Lied, freute sich an dem Klang, der ihn verließ und von außen wieder an sein Ohr drang und an sein Begreifen.
    „Ich lebe“, stellte er fest, und das Echo antwortete unerwartet.
    „Du bist vergänglich.“
    Danach sang er weiter. Der Hall spann sein Lied zum Kanon, und ein eigentümlicher Bordun formte sich aus seinen tiefsten Tönen. Zum ersten Mal verstand er das Lied.
    „Mr. Swithin“, sagte er, als plötzlich das spitze Mäusegesicht mit dem ewig miesepetrigen Ausdruck vor seinem geistigen Auge auftauchte. „Sie hatten Recht mit vielen Dingen, und von anderen hatten Sie nicht einmal den Ansatz einer Ahnung.“
    Er verschob seine Konzentration von seinem belagerten Verstand fort zu seinen anderen Sinnen. Die Felswände um ihn herum konnte er erkennen, obgleich das Dunkel vollständig war. Es fächerte sich in ein Spektrum verschiedener Grautöne. Zum ersten Mal nahm er seine Umgebung bewußt wahr. Er sah, wo Gestein war, wo Luft und wo Fleisch.
    Er blickte an sich hinab. Er war ein sehr junger Mann, stellte er fest und meinte, das immer schon geahnt zu haben. Natürlich, was sollte er sonst wohl sein? Er war ein junger Mann in einer Höhle.
    Er verspürte Schmerzen. Sie sammelten sich an seiner neuen Erkenntnis, und es war ihm schier unmöglich, sie einem Körperteil zuzuordnen. Es war eher, als seien sie gleichmäßig über seinen ganzen Körper verteilt, durchdrängen jeden Knochen und alle Organe.
    Er war vergänglich, hatte das Echo gesagt. Das hieß, er würde sterben. Hier in der Höhle würde er in seinen Schmerzen liegen und sterben.
    Das konnte er nicht zulassen. Letztlich war er unsterblich oder immerhin beinahe. Am Leben entlangzureisen war seine Spezialität, und dabei Schmerz zu verspüren war eine unwillkommene Ablenkung. Das Gefühl erinnerte ihn an den grausigen Moment, in dem die vergänglichen Geschöpfe ihn ergriffen und zu entleeren versucht hatten.
    Er lernte aus der Erfahrung und beschützte den zerbrechlichen Körper, in dem er nach dem Versagen seines eigenen physischen Zusammenhalts Zuflucht gesucht hatte. Vieles wurde immer klarer. Sein Geist war gespalten. Doch er würde heilen, und auch das Menschenwesen würde heilen, denn nur geheilt würde es nützlich sein, und schließlich würden sie um diesen Körper streiten, inmitten der Felsmusik, der Wassermelodie und der süßen Weise, die der sterbliche Junge gesummt hatte. Er mochte das Lied.
    Es würde Jahre dauern, bis diese Knochen zu Salz wurden, wenn überhaupt. Doch er hatte, was er brauchte, eine körperliche Erscheinung, die ihm half, sich in der stofflichen Welt zu materialisieren.
    Der Jüngling würde lernen zurückzustehen. Im Augenblick war seine allzu deutliche Anwesenheit noch ein Ärgernis. Die Gedanken flogen ihm zu ungestüm durch den Schädel, zu scharf und zu klar. Daran war er nicht gewöhnt. Schlafende

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