Sam & Emily: Kleine Geschichte vom Glück des Zufalls (German Edition)
Verletzung sämtlicher Regeln und Vorschriften brachte Emilys Mutter die Ärztin dazu, Riddle eine Viertelstunde lang gründlich zu untersuchen. Ein Freundschaftsdienst. Eine kollegiale Gefälligkeit. Eine Riesenbitte.
Keine Formulare, keine Zustimmung der Eltern, kein Papierkram, nur eine Ärztin, die ein Kind untersuchte, das (ihnen beiden unbekannt) seit seiner Impfung mit zwei Jahren nie mehr einen Arzt gesehen hatte.
Riddle, der die ganze Prozedur schweigend über sich ergehen ließ, antwortete auf keine der Fragen, die Dr. Howard ihm stellte. Das übernahm Sam.
Und ihre Diagnose lautete genauso wie Debbies: Asthma. Möglicherweise noch verschärft durch eine akute Allergie. Sie wollte, dass Riddle sich von einem Lungenspezialisten namens Dr. William Wang untersuchen ließ, der seine Praxis in der Eleventh Street hatte.
Dr. Howard stellte einen Überweisungsschein aus und holte zwei Proventil-Inhalatoren aus dem Schrank. In die Liste trug sie ein, sie habe sie Deborah Bell für den Patienten Riddle Smith übergeben. Emily, die mit Dr. Howards Sohn befreundet war, bedankte sich bei ihr. Sam bedankte sich auch.
Bevor sie nach dem Essen aufgebrochen waren, hatte Emilys Mutter Riddle noch ein Stück von dem Maulwurfkuchen zugesteckt (auf einem Pappteller und fein säuberlich in Alufolie eingewickelt, für später). Riddle hatte sich geweigert, es im Auto zu lassen, und während der gesamten Untersuchung nicht aus der Hand gelegt.
Alle hatten sich bereits verabschiedet (außer Riddle, der kein Wort von sich gegeben hatte) und gingen schon den Gang hinunter, als Riddle abrupt stehen blieb. Er machte kehrt, lief zurück zu Dr. Howard und überreichte ihr wortlos das eingepackte Stück Kuchen.
Geschafft.
***
Am zehnten Tag der Proventiltherapie hatte Riddle plötzlich das Gefühl, er könne richtig atmen. Der zähe Schleim, den er eigentlich immer im Mund hatte und der wie ein Knäuel seine Kehle verstopfte, war flüssiger geworden.
Es war verrückt, wie seltsam er sich plötzlich fühlte.
Denn ihm kam es vor, als habe jemand zehn Jahre lang auf seinem Brustkorb gehockt und mit einem Mal beschlossen, den Posten aufzugeben. Riddle war so sehr an das Engegefühl in seiner Brust gewöhnt, an den Druck und die buchstäbliche Klemme, in der er sich befand, wenn er auch nur ein wenig Luft holen wollte, dass ihm vor Erleichterung über den plötzlichen Sauerstoffzufluss fast schwindlig wurde.
Sam beobachtete seinen Bruder und fragte sich, ob
Riddle wohl deshalb kaum gesprochen hatte, weil es einfach eine zu große Strapaze für ihn gewesen war.
Denn jetzt sprach er auf einmal.
Plötzlich konnte er ausdrücken, was ihn beschäftigte, und sich nicht nur bemerkbar machen, sobald er etwas brauchte oder in Panik geriet. Er wiederholte zwar oft nur seine Gedanken – manchmal manisch geradezu –, aber er verhielt sich nicht mehr wie ein Fisch außerhalb des Wassers, der mit weit aufgerissenem Maul gierig nach Luft schnappte. Er schien seine ganz eigenen Meinungen und Vorstellungen zu haben und sie plötzlich mitteilen zu wollen. Und manchmal eben unermüdlich.
Eines Morgens hatten sie lange ausgeschlafen. Und nachdem sie aufgestanden waren und jeder von ihnen eine halbe Schachtel alter Cornflakes (ohne Milch) und eine Flasche Pepsi gefrühstückt hatte, gingen sie miteinander zur Müllhalde.
Dort half Sam irgendeinem unwirschen Kerl dabei, den Krempel von einer Zwangsräumung aus seinem Truck auszuladen. Der Typ gab Sam drei Dollar. Das war besser als gar nichts, reichte aber kaum für eine Mahlzeit.
Als Sam und Riddle die Needle Lane hinuntergingen, fiel ihnen nicht auf, dass Bobby Ellis sie im Visier hatte. Die Needle Lane war eine Sackgasse, die häufig überschwemmt gewesen war, bevor das Ingenieurkorps der Armee den Wasserspeicher gebaut hatte, und obwohl seitdem Jahre vergangen waren, bewahrte die Straße das Andenken an jene Zeit. Der Boden hier war weich und fett von all den Überschwemmungen und strotzte nur so vor Unkraut und jahrelanger Vernachlässigung.
Die Häuser in der Needle Street stammten großteils aus den Vierzigerjahren. Manche standen leer, keines war gepflegt. Einer der Nachbarn hier war eingebuchtet worden, weil er vergangenen September mit Drogen gehandelt hatte. Jemand hatte einen Smiley auf seine Hauswand gesprüht.
Als Sam und Riddle daran vorbeigingen, hielt Riddle seinen Inhalator in die Luft und sagte: »Und was mache ich, wenn er leer ist?«
Sam überlegte. »Du hast ja noch
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