Sam & Emily: Kleine Geschichte vom Glück des Zufalls (German Edition)
Sie wussten beide, dass sie einfach hätten wegrennen können. Sie hätten sich auch weigern können mitzufahren. Aber diese Möglichkeiten schienen nicht wirklich zu existieren. Beide Jungen hatten die Erfahrung gemacht, dass ihnen weggenommen wurde, was ihnen wichtig war. Dass auf sie eingeprügelt wurde, wenn sie für sich einstanden. Dass man sie zum Schweigen brachte, wenn sie sagten, was sie dachten. Beide hatten nur gelernt, für den anderen da zu sein. Außenstehende konnten niemals Teil der Gleichung sein.
Diese Spielregeln hatte Clarence schon vor vielen Jahren eingeführt.
Sam hielt Riddle die Tür des Lkws auf, aber der stieg nicht ein. Er ging zurück zum Haus.
»Da ist nichts mehr im Haus. Ich habe alles mitgenommen. Und jetzt steig ein«, rief Clarence ihm zu.
Aber Riddle ging einfach weiter.
Clarence spuckte auf den Boden und wandte sich an Sam. »Los, geh. Sieh zu, dass du deinen Bruder ins Auto schaffst. Und zwar sofort!«
Die Haustür ging auf und wieder zu und Riddle war verschwunden. Sam rührte sich nicht. Clarence schwenkte die Taschenlampe von der Tür zurück auf Sams Gesicht und sagte: »Ich weiß, wo Tim Bell wohnt. Und die hübsche Emily. Nächstes Mal schlitze ich mehr auf als bloß einen Reifen. Und jetzt geh und hol den Jungen!«
Sam bemühte sich, seine Wut zurückzuhalten und tief in sich zu begraben. Wenn er zeigte, wie es in seinem Innern aussah, würde Clarence den Sieg davontragen.
Wenn es ihnen nichts ausmachte, dass sie die Stadt verließen, wenn Clarence Riddle und ihn nicht verletzen konnte, war Clarence ihnen unterlegen.
Nur funktionierte es dieses Mal nicht so einfach. Dieses Mal hätte Sam seinen Vater am liebsten an der Kehle gepackt und so lange zugedrückt, bis er nicht mehr konnte.
Doch Sam wandte sich ab und ging auf das Haus zu.
Innen brannte nur ein Licht im Gang. Aber um zu erkennen, dass hier jemand gewütet hatte, brauchte man keine Festbeleuchtung. Chaos hatte in diesem Haus mit dem zusammengewürfelten kaputten Mobiliar immer schon geherrscht, verwahrlost wie es war.
Aber jetzt war ein neues Moment hinzugekommen; jetzt sah man, dass Clarence hier ausgerastet war.
Der Fußboden war mit ihren Habseligkeiten übersät und überall lagen umgekippte Stühle herum.
Sam hörte, wie sich Riddle durch den Flur auf die Hintertür zubewegte. Er stieg über einen zerbrochenen Teller und ging ihm nach.
Draußen stand Riddle auf dem kleinen Karree, das den Hinterhof bildete, und tat zweierlei.
Zuerst ging er hinüber zu den alten blechernen Abfallkübeln, die am Ende des Grundstücks standen, und holte eine Tüte Katzenfutter und eine Plastikschüssel aus einem Versteck hervor. Er füllte etwas von dem Futter in die Schüssel und stellte sie auf den Boden neben den Zaun.
Dann ging er weiter zu der alten Eiche, die sich an den zusammengefallenen Metallschuppen lehnte. Er stellte sich mit einem Fuß darauf, streckte den Arm nach einem der Äste aus und hielt plötzlich den zweiten Inhalator, den der Arzt ihm mitgegeben hatte, in der Hand. Er steckte in einer durchsichtigen Plastiktüte. Riddle schob ihn in seine Tasche, ging quer über den Hof und durch die enge Einfahrt zurück zum Laster, wo er, ohne ein Wort zu sagen, auf den Rücksitz kletterte. Dann machte er die Tür zu.
Jetzt wartete Clarence nur noch auf Sam.
»Hey, Sam. Wir fahren!«, rief er in Richtung Haus.
Aber Sam stand immer noch im Hinterhof. Seine Augen hatten sich gerade an die Dunkelheit gewöhnt, als er zwei magere, ungestüme Kätzchen – Geschwister wohl – hinter dem Schuppen hervorkommen sah. Vorsichtig liefen sie auf die Schüssel mit dem Trockenfutter zu.
Riddle und seine Geheimnisse.
Während Sam das Haus verlassen hatte, um sich mit Emily zu treffen, hatte sich Riddle wohl andere Gesellschaft gesucht. Sam schaute den beiden Katzen eine Weile beim Fressen zu. Und deshalb entdeckte er seine Gitarre auch erst, als er sich schließlich zum Gehen wandte. Sie lag auf der anderen Seite der Eiche und irgendjemand hatte sie in tausend Stücke zerschlagen.
18
Nachdem sie das Handy gefunden hatte, bat Emily ihre Mutter, sie zur Bushaltestelle zu fahren. Aber natürlich waren sie da schon lange nicht mehr. Dann überredete sie ihre Mutter, mit ihr zur River Road zu fahren. Aber natürlich war das genauso sinnlos.
Sie hatten Sam und Riddle immer an derselben Ecke abgesetzt, und als Emily jetzt einen Blick in die dunklen Seitenstraßen warf, wurde ihr klar, dass sie überall und nirgends
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