Sam & Emily: Kleine Geschichte vom Glück des Zufalls (German Edition)
ganze Stadt in helle Aufregung versetzt? Und jetzt hatte ausgerechnet sie, Edith Luanne Dairy, die Verbrecher gefasst?
Nun ja, vielleicht nicht gerade gefasst, aber entdeckt hatte sie sie. Und vielleicht gab es ja dafür auch eine Belohnung.
Das Schicksal konnte sich auch mal zum Guten wenden – dafür war es nie zu spät im Leben.
***
Mrs Dairy brachte die grüne Schatulle wieder in ihrem Versteck unter dem Bett an, behielt aber die Christbaumnadel zurück. Nicht etwa für sich selbst, sondern um ein Beweismittel zu haben. Sie hatte nämlich das Gefühl, dass man ihr sonst nicht glauben würde. Sie war alt. Ihr Gehör nicht mehr das beste. Und ihre Sehkraft noch schlechter. Sie litt unter einer Makuladegeneration, aber das verheimlichte sie.
Und obwohl sie eins und eins zusammenzählen konnte und noch immer zwei herausbekam, war sie vom Rest der Welt abhängig – was bedeutete, dass sie einen Beweis für ihre Anschuldigung würde vorbringen müssen.
Deshalb behielt sie die Christbaumnadel bei sich. Außerdem fand sie sie wunderschön. Sie hatte sie in die rechte Tasche ihres pfirsichfarbenen Arbeitskittels gesteckt, sodass sie rhythmisch gegen ihren pummeligen Oberschenkel schlug, während sie das Motelzimmer verließ. Übergangsweise gehörte die Nadel ihr.
***
Ein Blick auf die Alte, die gerade ihren Staubsauger aus seinem Motelzimmer schob, und Clarence wusste Bescheid. Irgendwas hatte ihr neuen Schwung verliehen und todsicher lag es nicht daran, dass sie sein Rattenloch geputzt hatte. Außerdem würdigte sie ihn keines Blickes mehr. Vorhin hatte sie ihn noch breit angegrinst mit ihren kaffeebraunen alten Zähnen.
Man wusste eben nie, wann die Leute einem ins Handwerk pfuschten. Gerade erst hatte er ein Auge auf einen noch unberührten Karton mit Handys geworfen, der unbeaufsichtigt vor der offenen Hintertür des Audio-/Videoshops stand. Und mir nichts, dir nichts hatte Oma Zahnfleischschwund ihm den Spaß verdorben.
Sobald Mrs Dairy ihr Zimmer verlassen hatte, wollte Riddle aus dem Laster klettern, aber Clarence fuhr ihn an: »Mach die Tür zu. Auf der Stelle!«
Sein Tonfall ließ keinen Einwand zu. Clarence startete den Motor. Sam, der – in ebenso vielen Tagen – kaum ein Dutzend Worte mit seinem Vater gewechselt hatte, beugte sich zum Fahrersitz vor. »Was machst du denn da?«
»Wonach sieht’s denn aus, he?«
Clarence legte den Rückwärtsgang ein, dass es nur so knirschte, und setzte auf dem Parkplatz des Motels zurück. Sam sah Mrs Dairy auf sie zukommen. Sie war in einen leicht vornübergebeugten Zotteltrab gefallen und bewegte sich auf diese Weise so schnell, wie ihr vierundachtzig Jahre alter Körper es erlaubte.
Als der Lkw aus dem Parkplatz schwenkte und auf die Schnellstraße einbog, ließ Mrs Dairy ihren Putzwagen im Stich und legte den Weg zum Empfangsbereich des Motels in einem für ihre Verhältnisse schonungslosen Sprint zurück.
Ohne erkennbare Gefühlsregung beobachtete Sam die Szene durch sein Seitenfenster. Neben ihm saß Riddle und hechelte nach Luft. Ihm war soeben klar geworden, dass das hier keine Spritztour war. Die Tränen stiegen ihm in die Augen und er fasste Sam am Arm und murmelte: »Mein Inhalator…«
***
Emily ging am nächsten Tag zusammen mit Bobby und Nora und Rory zum Mittagessen in die Cafeteria, und als Bobby sie fragte, ob er sie nach der Schule nach Hause fahren dürfe, stimmte sie zu. Danach ging Bobby in den Kraftraum zum Gewichtestemmen und Emily machte ihr Konditionstraining für die nächste Fußballsaison.
Als Bobby fertig war, kam er zur Laufbahn und wartete, bis sie ihre Runden gedreht hatte. Emily stellte fest, dass sie den Anblick seines aufgepumpten Oberkörpers in dem schweißnassen T-Shirt nicht lange ertrug.
Hatte er wirklich schon immer solche Muskeln? Konnte man solche Oberarme haben? Erstaunlich.
Aber so vieles war jetzt erstaunlich. Weil nämlich alle ihre Sinne geschärft und gesteigert waren. Seit dem Verschwinden von Sam und Riddle war das so. Als hätten die beiden jeder Ecke, jedem Umriss ihrer Welt eine neue, scharfe Kante verliehen.
Deshalb konnten jetzt auch schon kleine Beobachtungen viel in ihr auslösen.
Hatte der Himmel abends, kurz nach Sonnenuntergang, immer schon diese Farbe, die sie an eine sandige Muschelschale erinnerte? Und warum fühlte sich der Augenblick, in dem die Sonne hinter den Bergen unterging, für sie nun immer so schmerzlich an? Am nächsten Tag war sie doch wieder da. So wund und empfindlich war
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