SAM
frage ich Alex.
„Nein, lieber nicht. Nach so langer Zeit muss der Flügel vermutlich erst einmal gestimmt werden.“ Er geht auf die Gemälde zu, die rechts neben dem Kamin an die Wand gelehnt stehen. Er schaut sie sich an und ich gehe zu ihm.
„Wer ist diese wunderschöne Frau auf dem Bild?“, frage ich ihn leise. Er zögert mit seiner Antwort. Mit trauriger Stimme sagt er dann: „Meine Schwester.“
„Was ist mit ihr passiert?“, will ich wissen und hoffe nicht eine Wunde in seinem Herzen zu öffnen.
„Sie wurde ermordet.“ Seine Stimme klingt eiskalt, schneidend.
„Es tut mir so leid, Alexander. Du hast sie sehr geliebt?“, entgegne ich mitfühlend.
„Ja, wir standen uns sehr nah.“
„Möchtest du mir von ihr erzählen?“ Er zögert und kniet sich nieder, um mit dem Gemälde und der darauf abgebildeten wunderschönen, jungen Frau in Augenhöhe zu sein.
„Sie war meine Halbschwester. Mein Vater war nach dem Tod meiner Mutter mit einer anderen Frau vermählt. Aus dieser Verbindung gingen zwei Kinder hervor. Isabella und Ethan.“ Er schweigt für einen Augenblick. Ich lege ermutigend eine Hand auf seine Schulter. Schließlich fährt er fort.
„Als ich sie kennenlernte war ich 25 Jahre alt und ein noch sehr junger, unerfahrener Vampir. Sie war, im Gegensatz zu mir, bereits als reinrassiger Vampir geboren. Die körperliche Entwicklung eines reinrassigen Vampirs endet ungefähr zwischen dem fünfundzwanzigsten und fünfunddreißigsten Lebensjahr, wenn der menschliche Körper seine Entwicklung abgeschlossen hat und bevor der Alterungsprozess einsetzt. Wir mochten uns sehr. Während Megan, ihre Mutter, keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen mich machte, hielt Isabella immer zu mir und zeigte offen ihre Zuneigung. Obwohl ich älter war als sie, nannte sie mich immer ihren „kleinen“ Bruder. Wir teilten die gleiche Leidenschaft für die damalige Literatur und unternahmen stundenlange Spaziergänge und lasen uns gegenseitig Gedichte und Geschichten vor. Isabella war so wunderschön, klug und einfühlsam. Ich konnte nichts vor ihr verbergen und sie tröstete mich immer dann, wenn mein Vater mir wieder einmal klarmachte, dass ich ein Bastard sei, weil meine Mutter eine schwache Sterbliche gewesen ist. Ich hasste ihn dafür, wie er über meine Mutter sprach. Und dennoch habe ich mir damals nichts mehr gewünscht, als ein reinrassiger Vampir zu sein. Meine vampirischen Fähigkeiten waren immer noch nicht voll entwickelt und so war ich regelmäßig den Kraft- und Mutproben meines Halbbruders ausgesetzt, der ebenfalls bereits ein voll entwickelter Vampir war. Er hasste mich genauso abgrundtief, wie ich ihn. Und so kam es häufig zu Streitereien, die immer brutaler wurden und nicht selten darin endeten, dass wir blutüberströmt nach Hause kamen. Da ich noch nicht so stark war und so schnell heilte wie Ethan, galt Isabellas Sorge und Aufmerksamkeit nach solchen Kämpfen immer mir. Was zur Folge hatte, dass Ethan mich nur noch mehr hasste und verabscheute. Es wurde immer deutlicher, dass er mich aus dem Weg haben wollte und mein Vater tolerierte offenbar seine Absicht. Für ihn war und blieb ich ein wertloser Bastard. Ein lästiges Anhängsel längst vergangener Zeit.“
Alexander verstummt und richtet sich auf. Ich nehme seine Hand und wir schauen beide auf das Gemälde von Isabella. Mit leiser Stimme fährt er fort.
„Eines Nachts wollte Ethan meinem nichtsnutzigem Leben endgültig ein Ende setzen und lauerte mir auf einer Waldlichtung auf. Wieder beschimpfte er mich und nannte meine Mutter eine wertlose Hure. Wir kämpften wie zwei Wahnsinnige miteinander und schlugen halb verrückt aufeinander ein. Was ich nicht wusste, war, dass er einen Dolch bei sich hatte. Nachdem er mich mit seinen Faustschlägen und Tritten bereits in die Knie gezwungen hatte und ich mit geschwollenem Gesicht, blutspuckend zu ihm hochsah, zog er den Dolch aus seinem Ledergürtel und kam langsam auf mich zu. Ich krümmte mich vor Schmerzen und da mein ganzer Körper immer noch übersät war von noch nicht abgeheilten Prellungen und Schnittwunden, die mir Ethan in den Tagen vorher zugefügt hatte, war ich nicht in der Lage, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen und mich ihm entgegenzustellen. Ich wartete auf seinen Todesstoß und flehte ihn fast herbei, denn ich war es leid, ein wertloser, nichtsnutziger Bastard zu sein. Gerade als er den Dolch anhob, hörte ich einen schrillen Schrei aus Richtung des Waldes. Isabella
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