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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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allein wäre noch kein Hinweis gewesen, kein Warnsignal. Auch daß die Staubfahnen so plötzlich in sich zusammensackten, erlebte Kaufner nicht das erste Mal. Je ruhiger es in den Bergen wurde, desto unruhiger wurde er, Ruhe war hier selten ein gutes Zeichen. Dann wieder ein kleiner Steinschlag, Kaufner ging probeweise in Anschlag, er konnte die andere Seite der Schlucht bis zur Hängebrücke bestreichen. Sofern er sich erhob, auch die eigene Seite, der Pfad ging bis zur Brücke leicht bergab. Im Zielfernrohr ließen sich die Graffiti auf dem
Kobrafelsen
lesen. Diesmal war er vorbereitet, er wollte alles richtig machen.
    Kaufner hockte, lauschte, starrte. Großartige Schlucht! So schmal, daß für den, der da in den nächsten Sekunden auf der anderen Seite auftauchen mußte, keine vernünftige Deckung möglich war. Kaufner hatte reichlich Zeit, das Panorama auf sich wirken zu lassen. Er blickte so genau hin, daß ihm die Bergflanken ihre verborgenen Farben enthüllten. Was früher nichts als grau gewesen, bekam im Lauf der Minuten immer mehr grüne, braune, beige, schwarze Tupfer, sogar gelbe und rote. Schläfriges Licht. Mehrfach biß sich Kaufner in den Handballen, griff nach seinem Wolfszahn. Ja, der wollte Blut schmecken.
    Und dann hätte er ihn fast verpaßt, der da kam. Alles bis zu diesem Moment war nur Vorspiel in seinem Leben gewesen, schlagartig fühlte es Kaufner – als ob sämtliche Kraft aus sämtlichen Gliedern im Handumdrehen entwichen war und eine lähmende Leere zurückließ. So nah schon? Er atmete etwas übertrieben tief ein. Spürte prompt wieder den Staub in der Speiseröhre, der Reiz wuchs an, je heftiger er ihn unterdrückte. Wurde unerträglich. Er mühte sich, möglichst nach innen zu husten, eine Art Implosion. Immerhin, das Gefühl der Lähmung war er dadurch wieder los. Wie kam der denn so schnell den Berg runter? Es war … jedenfalls nicht Januzak. Ebensowenig einer der Jungs. Ein gedrungener Typ mit Schlapphut, Sonnenbrille, das Gewehr geschultert. Er hatte zwar nicht den wiegenden Gang, war aber auch kein Anfänger mehr. Schon hatte er die Hängebrücke erreicht, es wurde Zeit, daß Kaufner eine Entscheidung traf. Jetzt betrat er die Brücke, Kaufner sprang auf, legte den Lauf auf den
Thron
, seine Schulter wuchs mit dem Kolben zusammen, sein Finger mit dem Abzug, alles an ihm wurde zur Waffe. Im Zielfernrohr sah er, wie dem Mann plötzlich der Mund aufging, wie er sich das Gewehr von der Schulter riß. Sah, wie die Brücke unter ihm sofort ins Schwingen geriet, der Mann versuchte anzulegen, schwankte beträchtlich, legte an, schoß sogar noch, hatte aber bereits das Gleichgewicht verloren. Krachend fuhr sein Schuß durch den Himmel. Wohingegen er selber bergab stürzte, von den Wassern sofort erfaßt und etliche Meter hinabgerissen. Für ein paar Sekundenbruchteile tauchte er im Wasserschaum noch einmal auf, der nächste Strudel riß ihn weiter talwärts. Etwa zwanzig, dreißig Meter tiefer blieb er an einem natürlichen Stauwehr aus Felsblöcken kopfunter verkeilt hängen, nur ein Bein ragte übers Wasser. Sein Hut trudelte schon viel weiter unten.
    Kaufner hörte das Blut durch die Schläfen rauschen. Was war da gerade passiert? Wieso hatte er selbst nicht geschossen? Als er sich anschickte, den Hals freizuräuspern, sah er den Esel auf der anderen Seite der Schlucht, zu vollkommener Reglosigkeit erstarrt, dem Hineinlauschen in die Bergwelt ergeben. Kaufner vergaß das Kratzen im Hals. Alles, was er vernehmen konnte, war die anhaltende Wut des Wassers, das sich in die Klamm hinabstürzte. Er kniff die Augen zusammen, sah auf die gegenüberliegende Felswand, in der, vereinzelt von verdorrten Stauden markiert, der Pfad weiterlief, bald an Höhe gewinnend. Darauf der Packesel, der nicht weiterwollte.

    Und erst Minuten später, so wollte’s Kaufner scheinen, der Treiber, der dazugehörte. Hinter einem Felsen hervortretend, der ihm Deckung geboten, winkte er Kaufner, rief ihm über den Abgrund der Schlucht hinweg zu. Es war Odina.
    Als er auf ihn zukam, hätte ihn Kaufner am liebsten umarmt. Der Junge schien es zu ahnen, blieb in gewissem Abstand vor ihm stehen, blickte ihn aus großen braunen Augen an, denen man das Entsetzen über die Tat deutlich ansah.
    »Es war ein Unfall«, sagte Kaufner, er vernahm seine eigene Stimme wie aus weiter Ferne.
    »Er hat dir nichts getan.« Odina wies in die Schlucht hinab, auf die Stelle, wo das Bein des Gestürzten aus den Wasserwirbeln ragte:

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