Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
das Beten nicht hörte, hörte er den Schrei.
Viertes Buch Leerer Berg
Kaufner hatte den Jungen immer gemocht. Aber jetzt liebte er ihn, daß es ihm das Herz zerriß. Aus schweren Träumen auffahrend, war sein erster Gedanke: Du mußt ihm helfen. Sein zweiter: Es ist gar nicht passiert. Sein dritter: Das Mindeste, was du für ihn tun mußt – nachsehen, ob er es geschafft hat. Dann schlief er wieder ein.
Gegen Morgen schreckte er zum zweiten Mal hoch, ein kleiner Schrei, aus nächster Nähe, hatte ihn Odina gerufen? Wo war er bloß? Um ein Haar hätte Kaufner die Taschenlampe angemacht. Er lag in einem nassen Schlafsack, auch sein Hemd vollkommen durchgeschwitzt. In der Dämmerung zeichnete sich gerade erst die Öffnung einer Höhle vor ihm ab. Erneut ein Schrei, nein, eine kleine Lawine, die in nächster Nähe abging. Schlagartig war Kaufner wach. Die Nächte hier oben gehörten den Wölfen, mitunter hörte man sie heulen. Eines Morgens war ein Rudel in kurzer Distanz zu seinem Nachtlager bergab gefegt, keinen Moment die rasende Talfahrt seinetwegen unterbrechend. Ein andermal war ein Wolf wenige Meter entfernt gestanden und hatte neugierig zugesehen, wie er aus seinem Schlafsack herauskroch.
Kaufner griff nach dem G 3 , doch alles, was er schließlich erlauschen konnte, war das ferne Herabklickern eines Steins, sodann eines zweiten. Da ging jemand durchs Gebirg. Dabei hatte der Tag noch gar nicht richtig angefangen, er mußte es eilig haben. Eine ganze Weile blieb Kaufner in seinem klammen Schlafsack liegen und auf der Lauer. Ein Glück, daß er gestern abend die kleine Höhle knapp unterhalb des Weges entdeckt hatte, ein besseres Versteck konnte man in einem Geröllfeld gar nicht finden.
Als er sich emporrappelte, zitterte er am ganzen Körper. In fieberhafter Beflissenheit rollte er den Schlafsack zusammen, riß ein paar Fetzen vom Fladenbrot, verschlang den Inhalt einer Thunfischdose. Über Nacht hatte es geregnet, der Blick ging weit in die usbekische Ebene hinein, Samarkand funkelte mit all seinen Kuppeln. So also fühlte es sich an, wenn man jemanden auf dem Gewissen hatte. Und noch jemanden. Hast du vielleicht doch geschossen? Im Magazin fehlte keine einzige Patrone, es mußte ein Unfall gewesen sein! Und danach, was war danach? Da fehlte erst recht keine Patrone. Womöglich hatte er auch das nur geträumt? Es half nichts, er mußte zurück in die Schlucht, mußte nachsehen, ob er jemanden auf dem Gewissen hatte. Vor allem noch jemanden.
Wie nach jeder Mahlzeit grub Kaufner eine Mulde für den Müll und zündete ihn an. Dabei stieß er, das brennende Zündholz zwischen den Fingern, auf eine Konservendose, die keinerlei Rostspuren zeigte. Denk nicht drüber nach! Du bist bereit, das ist das einzig Wichtige. Kaufner lauschte so lange in die Bergwelt hinaus, bis er ihn wieder hörte: den kleinen Schrei. Odina hatte nach ihm gerufen, wer sonst, Kaufner beeilte sich, dem Ruf Folge zu leisten: Jetzt erst besann er sich des Zündholzes, warf es verärgert zur Asche, schüttete die Grube zu, verließ die kleine Höhle. Ging an der schwarz verkohlten Silhouette des Wunschbaums vorbei, passierte den unteren Rand des Geröllfeldes, stieg die sieben Kehren hinab ins
Tal, in dem nichts ist.
Von dem, der in den Bach gestürzt, war nichts mehr zu sehen. Nicht mal ein Bein, das man sich gut dort hätte vorstellen können, wo sich die Wasser an einem Wehr aus Felsblöcken stauten. Und von Odina war ebensowenig zu entdecken, jedenfalls mit bloßem Auge. Lediglich einen Felsvorsprung sah man, auf dem, eng an eng, die Geier hockten. Sie hatten ein frisches Aas gefunden, immer wieder tauchte einer mit seinem Kopf tief in den aufgepflügten Körper hinein, das Gefieder der Vögel war bis zur Halskrause blutgetränkt. In der Felswand rundum saßen die Raben und warteten darauf, daß sie an der Reihe waren. Wie gierig sie hin und her hopsten, einander zu vertreiben suchten! Nur wenn die Geier miteinander in Streit gerieten, traute sich der eine oder andre blitzschnell herbei, schlug seinen Schnabel ins Fleisch des Kadavers, machte sich sofort mit seiner Beute davon. Immer mehr Raben kreisten über der Schlucht, segelten herab, ließen sich in der Wand nieder, aufgeregt krächzend und nervös aufflatternd, sobald sie einander zu nahe kamen in ihrer Gier. Selbst die Geier hackten aufeinander ein, sofern einer von ihnen allzu lange den Hals in der offenen Bauchhöhle des Kadavers verschwinden ließ. Ganz oben auf dem Weg,
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