Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
schön es war! Kaufner konnte die Melodie mitsummen, er hätte sogar mitsingen können:
»Bodaho kholist, kholist / Sogharu mino kujost, / Dar ba maikhonast basta / Sogii zebo kujost …« Alle Flaschen sind leer, sind leer, wo sind die Gläser, wo der Wein? Die Tür des Cafés ist verschlossen. Wo mag der nette Mann hinterm Tresen jetzt sein …
Kaufner kannte das Lied, kannte den Namen des Sängers, wußte, daß er aus Afghanistan und in einem der letzten Kriege erschossen worden war. Vielleicht auch in der Zeit zwischen den Kriegen, was tat das schon zur Sache. Mittlerweile hatte er die Hängebrücke erreicht, den Pfad, auf dem Odina mit seinem Herrn gekommen und den er selber zu nehmen hatte. Wie er ihn ein Stück weit gegangen, erhob sich Odina auf der anderen Seite der Schlucht, immerfort singend, stand barfuß am Abgrund und rief laut nach Gott. Danach streifte er sich das Hemd übern Kopf, an der Innenseite der Unterarme kam eine Tätowierung zum Vorschein. Und am Hals ein Band, an dem … Kaufner legte das Gewehr an, um durchs Zielfernrohr ganz sicher zu sein: an dem der USB -Stick hing, den er ihm im letzten Jahr geschenkt.
So stand der Junge eine Weile, laut singend, die Augen geschlossen. Breitete sehr langsam seine Arme aus, die Handflächen nach wie vor gen Himmel, den Kopf in den Nacken gelegt. Statt zu springen, blieb er einfach stehen, weiterhin singend, zeitlupenlangsam das Gleichgewicht verlierend. Als er gerade noch mit den Füßen den Fels berührte, ging sein Gesang in einen langgezogenen Klagelaut über. Eine atemlose Sekunde, etwa zehn Meter tiefer schlug sein Körper auf einem Felsvorsprung auf, man hörte die Knochen brechen.
Einige Momente lang war es still. Aus der Tiefe das Rauschen des Baches wie aus einer fernen Welt. Dann hörte man Odina, er lebte noch, man hörte seinen Schrei, voll Zorn über sein mißlungnes Sterben, den Schmerz übertönend. Die Wände der Schlucht machten den Schrei zu etwas, das aus dem Innersten des Berges zu kommen schien, gewaltig zwischen den engen Bergwänden gen Himmel fahrend. Immer wieder versuchte Odina zu singen, versuchte, sich mit zerschmetterten Gliedern an den Rand des Felsvorsprungs zu ziehen und darüber hinweg, doch dazu fehlte ihm die Kraft. Warum hast du dich denn nicht wenigstens abgestoßen, mein Junge, flüsterte Kaufner, dann wärst du mit Wucht im Jenseits angelangt. Eine ganze Weile sah er mit geschlossenen Augen zu, wie sich Odina wenige Meter unter ihm abquälte, noch über die Felskante hinaus und zu Tode zu kommen. Aber es half nichts, auch mit geschlossenen Augen hörte man ihn.
Durchs Zielfernrohr erkannte Kaufner einige kyrillische Buchstaben auf Odinas Unterarm. Der Junge, ein verdreht zuckendes Bündel, blutete stark, hilflos verkeilt lag er hinter einer Felsnase, aus eigener Kraft konnte er es niemals schaffen. Je länger ihm Kaufner zuhörte, wie er stöhnte, sang, fluchte, betete, schrie, desto sicherer glaubte er, ein Flehen herauszuhören, ein Flehen, er möge ihn erlösen, sein Leiden beenden.
Du mußt ihm helfen, flüsterte Kaufner voller Entsetzen, du bist es ihm schuldig. Er zog das halbe Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn. Legte sich auf den Boden, suchte eine Auflage für den Lauf, grätschte die Beine, preßte beide Knöchel fest zu Boden, bis er Teil der Felswand geworden, auf der er lag. Entsicherte, lud durch, atmete aus. Lauschte hinab in die Schlucht, doch da war kein Flehen mehr, nur ein kraftlos stiller Schrei, der dem Sterbenden entwich, aus der Tiefe durch das anhaltende Rauschen untermalt. Nach einer Pause setzte leis ein Wimmern und Jammern ein, das ein Beten und Singen sein sollte.
Zweimal legte Kaufner an, sah durchs Zielfernrohr das, was von dem Jungen übriggeblieben, ein blutig verknäulter Klumpen Fleisch mit einem weit aufgerissenen Mund. Er streichelte mit dem Fadenkreuz darüber, wie gerne hätte er ihm geholfen. Zweimal setzte er ab, er konnte es nicht. Konnte es so wenig, daß ihm vor Wut die Tränen in die Augen traten.
Der kleine Schrei. Kaufner hörte ihn noch, als er sieben Kehren weiter oben war, er hörte ihn, als er das
Tal, in dem nichts ist
endgültig verlassen hatte, hörte ihn, als er den unteren Rand des Geröllfeldes passierte, als er die schwarzverkohlte Silhouette des Wunschbaums vor sich auftauchen sah. Er hörte das Wimmern, und wenn er das Wimmern nicht hörte, dann hörte er das Singen, und wenn er das Singen nicht hörte, hörte er das Beten, und wenn er
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