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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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dort, wo Odina gestern gebetet und gesungen, stand ein kleiner Fuchs, bebend vor Verlangen, dermaßen köstlich duftete es ihm in der Nase.
    Der Junge hatte es geschafft. Im Zielfernrohr erkannte man noch ein paar der kyrillischen Schriftzeichen auf seinem Unterarm, die so gut zu Dilshod oder Jonibek gepaßt hätten, um damit die Zugehörigkeit zu einer Bande zu demonstrieren. Aber so schlecht zu einem Jungen aus dem Pamir, der sein kurzes Leben ganz krank vor Stolz und Ehrgefühl gewesen. Oder war auch Odina am Ende nichts als ein Kleinkrimineller gewesen? Bald würde er ein unkenntlicher Klumpen sein, bewimmelt von Käfern, Ameisen, Fliegen. Seine Familie würde nie davon erfahren, das Dorf im Wakhantal, aus dem er stammte. Niemand würde seinetwegen einen Kondolenzbesuch bei den Hinterbliebenen abstatten, niemand würde an die Trauergäste Teepäckchen verteilen oder Geld. In Samarkand würde man ihn nicht mal vermissen, nicht mal Talib. Es würde einfach weitergehen, hier wie dort, als wäre nichts geschehen. Das Gesetz der Berge, Kaufner glaubte zum ersten Mal, zu verstehen, was damit gemeint war. Dies war der Morgen, da er ein bißchen verrückt wurde oder ein bißchen erleuchtet.
    Was hätte Odina getan? Er wäre aufgestanden und hätte den Weg fortgesetzt, die Sache zu Ende gebracht. Alsdann, sagte Kaufner und stand auf, ich werde die Sache zu Ende bringen. Nun war es wirklich ein verfluchter Weg, eine verfluchte Schlucht, ein verfluchter Berg. Sieben Kehren höher blickte er sich noch einmal um, gerade versuchte ein Geier mit wild schlagenden Flügeln zwischen den anderen zu landen, fand aber keinen Platz mehr und mußte abdrehen.
    Erst vor dem Wunschbaum hielt Kaufner wieder an. Gestern war er achtlos daran vorbeigegangen, heute stand und stand er davor, viel zu lange schon. Plötzlich sah er sich, wie er die verbliebene Hälfte von Shochis Taschentuch hervorholte und an einen der Äste knüpfte. Wie er die Fingerspitzen aneinanderlegte, damit kurz übers Gesicht strich, die Handflächen nach oben kehrte und eine Weile auf Brusthöhe hielt, als wolle er beten. Dabei wollte er nur an etwas anderes als an Odina denken.
    Er dachte an Shochi. Erst jetzt, da er den Jungen verloren, wurde ihm bewußt, daß er sie ebenfalls verlieren könnte. Er dachte an den Tag kurz vor seiner Abreise aus dem
Atlas Guesthouse
, da Jonibek mit seinen Freunden unterwegs und der Weg zur Loggia nicht durch die Hunde blockiert gewesen, der Weg zur Hochzeitstruhe. Ein warmer Frühlingstag in einer Kette an warmen Frühlingstagen, überall im Hof blühten die Rosen und verströmten ihren Duft. Stolz zeigte ihm Shochi die Schätze in ihrer Truhe, einen nach dem anderen, schließlich verschwand sie, um das Brautkleid anzulegen. Erst nach einer beträchtlichen Weile kam sie zurück: im knöchellangen Goldkleid, auch den kompletten Brautschmuck hatte sie angelegt, von der Goldkrone und den großen goldenen Ohrringen bis zu den Ketten, Ringen, Broschen, ja, sie hatte sich sogar geschminkt, die Haare hochgesteckt.
    Federnden Schrittes ging sie durch den Hof, eine schwankend schwebende Erscheinung in Gold, unter dem blühenden Aprikosenbaum hindurch und vorbei an Dutzenden von Blumentöpfen, dem leeren Springbrunnen. An den Mauern überall Spiegel, man konnte sie in jedem davon sehen oder zumindest den funkelnden Abglanz einer anderen Welt. Bevor sie die Stufen zur Loggia hochstieg und dabei ihre Schlappen abstreifte, blickte sie Kaufner mit ihren blauen Augen an:
    Ach, all das bedeute doch nichts. In einem Hochzeitskleid sehe jede gut aus, das sei ganz einfach.
    Blitzende Steine und glitzerndes Gold, ein prächtiger Rahmen für ein zauberhaft unsicheres Lächeln. Auch die Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen gehörte dazu. Nur die passenden Schuhe fehlten ihr noch, barfuß stand sie vor Kaufner und schnappte mehrmals nach Luft, ehe sie … nichts sagte. Kaufner sah in den nächstbesten Rosenbusch, Kaufner inhalierte, Kaufner schlug den Blick zu Boden.
    »Ich weiß, daß ich häßlich bin«, verstand Shochi sein Schweigen falsch, »trotzdem werde ich nach dir suchen, wenn ich wieder so schrecklich von dir träume. Wer sonst würde kommen, um dich zu retten?«
    Ihr Tick mit dem Schutzengel. Damals hatte er darüber laut gelacht. Nun durfte er sich ganz leise etwas wünschen. Sofern man den Wunsch in das Taschentuch hineindachte, würde es wirken, obwohl es ja eigentlich nur noch ein halbes Taschentuch war. Kaufner wünschte sich etwas,

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