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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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das er nicht einmal zu denken wagte. Strich sich mit beiden Händen langsam der Länge nach übers Gesicht, wie es Odina getan, und blickte in das Feld der Steine, das hinterm Wunschbaum in trostloser Endlosigkeit hangaufwärts führte. Wie es Odina getan. Als ob es dort etwas zu entdecken gegeben hätte.
    Gab es etwas zu entdecken? Minutenlang stand Kaufner ratlos. Warum hatte sich der Junge hier verneigt, warum hatte er gebetet? Weil der Baum vom Zorn Gottes gespalten und also ein Zeichen war. Tatsächlich lief eine helle Staubspur hinter ihm ins Geröllfeld hinein, sie verlor sich allerdings nach wenigen Metern. Wo ansonsten jeder noch so entlegene Pfad mit Kot markiert war, stand allenfalls da und dort ein Büschel verbranntes Gras. Kaufner überlegte, mit welchen Augen Odina in die Felsbrockenödnis hineingesehen hätte. Er hätte nicht danach gesucht, ob ein Weg hindurchliefe. Sondern sich überlegt, wohin dieser Weg zu führen hatte. Und sobald er die Ideallinie zum Gipfel erkannt hätte, wären ihm die Wegmarken dorthin ganz von alleine aufgefallen, die Steine, die man im Lauf der Jahre, Jahrzehnte auf die Felsen gelegt, geschichtet, gehäuft hatte, immer wieder aufs neue, den alten Weg solcherart über Jahrhunderte bewahrend.
    Kaufner ließ sich Zeit. Blickte ins Geröll, bis es sich zu Mustern gruppierte, bis die Felsen in eine Anordnung gerieten, die Platz für einen Wanderer ließen, so er denn trittsicher war und leichten Fußes. Man mußte den Berg nur lang genug betrachten, dann erkannte man ihn. Erkannte ihn auf eine Weise genau, daß man sogar sah, wie er auf der anderen Seite wieder abfiel, man mußte sich dazu nicht einmal hinknien und vom Staub kosten. Von einer Sekunde zur nächsten wußte Kaufner, wohin der Weg führte, den der Wunschbaum markierte.

    Zweimal hielt er inne, doch erst beim dritten Mal – und da war er schon stundenlang bergauf geklettert – kehrte er um. Ohne Taschentuch konnte er es nicht, er brauchte es dringend. Nicht nur, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, wenn es darauf ankam. Sondern vor allem, um es zu besitzen. Erst als er es wieder in seiner Hosentasche wußte, atmete er auf.
    Da er den Berg zum zweiten Mal ging, sprang er von Fels zu Fels, als wären’s Stufen einer Treppe. So schön konnte ein Geröllfeld sein! Den Weg hindurch fand er wie in Trance, die Steine sprachen zu ihm. Nein, ein Rufen war es nicht. Sie flüsterten, als striche der Wind über ihre Kanten, ein beständiges Pfeifen und Sirren erzeugend. Und sie hörten gar nicht mehr damit auf, Kaufner hätte sich die Ohrläppchen in die Ohrmuscheln stopfen können, es hätte nichts geholfen. Der Berg rief ihn.
    Er zog ihn, drängte ihn, hetzte ihn. Kaufner kam kaum nach mit seinen Schritten, ein Glücksrausch durchfieberte ihn, um ein Haar hätte er ein Lied gesummt, Bodaho kholist, kholist … Oder sich was vorgepfiffen. Fand sich dann aber plötzlich auf einem Fels, den Kopf in beide Hände gestützt. Wohin starrte und starrte er nur?
    Kaufner beschimpfte sich, verfluchte sich, stieß sich in ebenjenen Abgrund, in den er den Jungen gestoßen. Er lobte sich, rühmte sich, sah sich bereits am Ziel, am Objekt. Keiner konnte ihn mehr aufhalten, die Welt aus den Angeln zu heben und ihr einen anderen Verlauf zu geben. Weiter!
    Oh, Kaufner war erleuchtet und verrückt. Die Knie wackelten ihm bei jedem Schritt und er würde Wunder wirken, später. Während es in den Tälern immer komplizierter wurde, wurde es hier oben immer einfacher. Alles, was ihm auf seinem Weg bislang zur Qual geworden, erregte ihn nun. Als ihn der Abend mit einem Himmel ohne Sterne überraschte, war er in Gedanken schon am Ziel angekommen, entschlossen bis zur Grausamkeit. Jetzt trägst du das Mal, jetzt erkennen sie dich als ihresgleichen, jetzt buhlt selbst ein Feisulla um deine Waffenbrüderschaft. Weiter, Kaufner! Was brauchte er Licht, um zu sehen? Wo der Wind weht, ist der Gipfel nicht weit. Oder der Paß. Erst als er das Grau der Felsen mehrmals schmerzhaft mit dem Grau ihrer Zwischenräume verwechselt hatte, legte er sich unter einen Überhang; erst als es empfindlich kalt geworden, rollte er den Schlafsack aus wie früher, ein gewöhnlicher Mensch.
    Auch am nächsten Morgen weckte ihn Odinas Schrei. Klackerte irgendwo ein Stein bergab, waren ihm die Jungs auf den Fersen, strich Januzak durch sein Revier? Nicht mal die Konturen der Dinge hatte die Dämmerung erfaßt, aber Kaufner war nicht zu halten. Obwohl die Welt des

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