Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Sitora, eine Zigeunerin, die Timur einst von einem afghanischen Bergfürsten übernommen, nachdem er ihn erschlagen und ihm, sein Leichnam dampfte noch, den Wolfszahn vom Hals gerissen hatte. Den Wolfszahn, den bereits Dschingis Khan getragen und ins Blut seiner Opfer getaucht! Über die Generationen hinweg war er vererbt, geraubt, erpreßt, als Zeichen der Unterwerfung auch verschenkt worden, ein Amulett von höchster Symbolkraft. Timur fühlte sich als legitimer Nachfahr Dschingis Khans, der sein Weltreich neu errichten würde, er
mußte
den Zahn haben, dafür war jeder noch so fadenscheinige Anlaß zum Krieg gerade recht gewesen. Nun hatte er dazu Sitora. Der Fürst war mit ihr, obwohl Zigeunerin, also aus unstatthaften Verhältnissen stammend, sogar die Ehe eingegangen; und die Sitte verlangte, Frauen des besiegten Feindes dem eigenen Harem zuzuführen. Aber Sitora ließ sich nicht so einfach … zuführen. Sie blieb widerspenstig selbst noch in Samarkand, jähzornig, hochfahrend, unbezähmbar. Timur war froh, daß er sie fortan bei Toktamisch wußte. Wenn nur der Raub des Harems nicht an sich eine solche Schande gewesen wäre!
Nazardod erzählte mit vorgerecktem Kinn und geschlossenen Augen, als ob er den Text der Geschichte vor seinem inneren Auge sah und seinem Zuhörer Satz für Satz vorlas. Sobald der Ofen gar zu sehr kokelte, unterbrach er kurz, um sich die Asche aus dem Hals zu husten. Nun schlug er die Augen auf, vielleicht weil er sich der Aufmerksamkeit des Gastes vergewissern wollte, vielleicht weil ihn ein Tier aus seiner Herde gerufen hatte und er überlegte, dem Ruf Folge zu leisten. Schon schloß er die Augen indessen wieder:
Meine Geschichte erzählt vom Krieg Timurs gegen Toktamisch und das Reich der Goldenen Horde. Du weißt, das ist ein Bruderkrieg, sie stammen beide von den Mongolen ab, du könntest auch sagen: direkt von Dschingis Khan, und du hättest nicht gelogen. Mehr noch, Timur hatte den jungen Toktamisch mit allen Ehren aufgenommen, als dieser, nach mißglückter Revolte gegen seinen Onkel, an den Hof von Samarkand geflüchtet. Ein Pfeil, der ihm den Fuß durchbohrt, wurde von Timurs Feldscher herausgezogen und das Loch im Fuß mit einem glühenden Eisenstab ausgebrannt, der verletzte Toktamisch zuckte nicht, stöhnte nicht, klagte nicht. Da schloß ihn Timur wie einen Sohn in sein Herz. Nachdem er ihm zum Sieg über seine Widersacher und zur Herrschaft über die Goldene Horde verholfen, ließen sie zum Abschied einen Hengst, einen Stier, einen Widder und einen Hund, allesamt von weißer Farbe, gleichzeitig töten: So solle es ihnen ergehen, sofern sie das Bündnis brächen und gegeneinander ins Feld zögen.
Schon wenige Jahre später war es dann doch soweit. Und mit dem Raub des Harems auf Anhieb richtig schlimm; die Geplänkel, die sich Toktamischs Truppen mit denen von Timur im Kaukasus geliefert, am Aralsee oder andernorts, wo die beiden Riesenreiche zusammenstießen, waren dagegen nichts gewesen. Toktamisch suchte Timur zu beschwichtigen, schickte Gesandte mit kostbaren Neunergeschenken, darunter eine Herde Rennesel, im Begleitschreiben seinen Wunsch nach ewigem Frieden bekundend. Leider konnte er’s sich nicht verkneifen, darin die »Beweglichkeit« Sitoras zu rühmen, sie habe »zumindest den Teufel im Leib«. Er sei guten Mutes, ihren Widerstand mit der Kraft seiner Männlichkeit brechen zu können.
Timur bewirtete die Gesandten mit einem Festmahl, wie es sich gehörte, ließ sie anschließend verprügeln und schickte sie zurück, sein Gegengeschenk zu überbringen: Jungfrauen aus Kaschmir, die ihrer Schönheit wegen damals die höchsten Preise auf den Sklavenmärkten erzielten. Er hoffe, so ließ er Toktamisch ausrichten, sein Sohn wisse auch deren Qualitäten gebührend zu würdigen.
Die Anrede als »Sohn«, die jeden, der nicht sofort mit Krieg reagierte, zu Timurs Schutzbefohlenem gemacht hätte, ließ Toktamisch stillschweigend auf sich beruhen. Er hatte beschlossen, sie als Anspielung auf die Zeit zu verstehen, da er zu Timurs eigenem Blut gerechnet wurde, nicht als Ausdruck eines Herrschaftsanspruchs. Statt sich formell zu unterwerfen und den Lehnseid zu schwören, schickte er erneut Neunergeschenke, darunter eine Herde Apfelschimmel. Und seinen schwarzen Eunuchen.
Timur war empört. Er ließ den Gesandten die Bärte absengen, ließ sie schminken, verschleiern, auf ihre Pferde binden und, solcherart entmannt, zurücksenden zu ihrem Herrn. Bei den Mongolen und all
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