Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
offensichtlich wollte er seinen Gegner ins Leere laufen lassen. Timur marschierte so lange nordwärts, Trommeln und Zymbeln schlugen dazu den Takt, bis die Sommersonne nachts nicht mehr unterging und das Abendgebet ausfallen mußte.
Der Proviant drohte auszugehen, es gab nur noch eine Schüssel Gerstensuppe pro Mann, als einzige Mahlzeit des Tages. Es hätte nicht viel gefehlt, und die ausgehungerten Krieger hätten wie ihre Vorfahren, die Mongolen, eine Ader im Bein ihrer Pferde geöffnet und das warme Blut getrunken. Wer hinter seiner Einheit zurückfiel, mußte den Weg zur Strafe barfuß fortsetzen und empfing am Abend fünfundzwanzig Peitschenhiebe. Schleppte sich einer gar zu langsam dahin, erregte er den Zorn Timurs nicht selten derart, daß ihm auf der Stelle der Kopf abgeschlagen wurde.
Nach fünf Monaten Suche fanden sie den Feind. Er stand an der Wolga und war ihnen bei weitem überlegen – an Zahl, an Frische, an Kenntnis des Geländes. Timur hatte keine Wahl, so struppig und herunterkommen seine Soldaten auch waren, eine Lumpenarmee, er blies zum Angriff. Doch da setzte für sechs Tage ein Schneesturm ein, mitten im Juni, der Himmel wollte ihm ein Zeichen senden und eine letzte Frist einräumen, zu überdenken, was er tat. Am siebten blies Timur erneut zum Sturm, es war der 18 . Juni 1391 , die Schlacht währte drei Tage lang. Mehrfach stand er am Rande einer Niederlage, und daß er schließlich gewann, verdankte er nur einer List: Als Toktamisch am linken Flügel durchgebrochen und Timurs Flanke von hinten umfaßt war, sank plötzlich die Standarte der Goldenen Horde. Entsetzen unter denen, die sich eben noch als die sicheren Sieger sahen – das Fallen der Fahne signalisierte den Tod des Anführers. Alles wandte sich zur Flucht, nicht ahnend, daß der Standartenträger während des Schneesturms von Timur bestochen worden und ihr Anführer am Leben war, eben noch unaufhaltsam sich vorankämpfend, nun selbst bloß mit knapper Not entkommend.
Die meisten seiner Soldaten entkamen nicht. Sie wurden in die Wolga hineingehetzt, stell dir vor, Ali, es soll hunderttausend Tote gegeben haben. Und für die Sieger eine unermeßliche Beute an Kamelen, Pferden, Rindern, Schafen, Menschen. Allein für Timur wurden fünftausend Sklaven ausgewählt, mondgesichtige Jungfrauen, Jünglinge mit Zypressengestalt und Tulpenwangen, Toktamisch war Kenner und Genießer, mittlerweile in ganz Asien einschlägig bekannt. Timur schenkte die fünftausend Buhlknaben und -mädchen seinen Generälen, auf daß sie ihm auch in den Tagen der Freude ergeben blieben.
Der Himmel hatte jedoch noch eine zweite Lektion für die beiden vorgesehen, Timur und Toktamisch, er gab ihnen nur wenige Jahre, um sich von der ersten zu erholen, die er an der Wolga erteilt. Nach einer sechsundzwanzigtägigen Siegesfeier, die er seinen ausgezehrten Kriegern schuldig war, eilte Timur zurück nach Samarkand. Während der geschlagene Toktamisch die verbliebenen Getreuen um sich scharte, seine Herrschaft über die Goldene Horde zu sichern, hatte Timur lediglich eines im Sinn: Nazira.
Wieder schlug Nazardod die Augen auf, Kaufner nickte, Nazardod war beruhigt. Er trat kurz vor die Tür, um nachzusehen, wie sich seine Familie das Nachtlager eingerichtet hatte. Von draußen schlug klar und kalt die Nacht herein. Wenn man hinauslauschte, durfte man sich einbilden, das Atmen der schlafenden Herde zu vernehmen. Kaufner hatte keine Ahnung, warum ihm der Schäfer die Geschichte unbedingt erzählen wollte. Weil sich ein Mann zwischen Wolfszahn und blauen Augen zu entscheiden hatte? Sowie Nazardod zurück in der Hütte war, legte er ein paar Kuhfladen nach, der Geruch wurde kurzzeitig schärfer. Es gab eine Runde
Kaliber
, dann schloß der Schäfer die Augen und fuhr fort:
Ein Jahr lang warb Timur um Naziras Herz, und wieder wurde er dabei schwer krank. Sprach er zu ihr, hielt sie den Blick durch ihn hindurch gerichtet, als suchte sie in der Ferne, was sie in seiner Nähe nicht fand. Während er sich mühte, dem Blick standzuhalten, fielen reihum die unterworfenen Länder von ihm ab, die georgischen, armenischen, turkmenischen, kurdischen, persischen Fürstentümer. Auch die Goldene Horde war bald so mächtig wie zuvor, mit Toktamisch als ihrem Khan, es war, als hätte Timur all seine Schlachten gar nicht geschlagen. Entweder er würde schleunigst losziehen, um mit endgültiger Grausamkeit zu vernichten, was sich nicht freiwillig unter die Friedensordnung des
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