Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Wolfszahn? Wer sagt
das
denn?« Nun hatte sich Kaufner verraten, er sah es an der Miene des Schäfers.
»Ali«, schenkte der eine Runde Wodka aus, »dein Lager ist bereit, aber wenn du willst, erzähle ich dir die Geschichte.«
Er reichte seinem Gast das Glas, wie immer randvoll gefüllt, so gehörte es sich.
»Dann kannst du morgen immer noch entscheiden, ob du finden kannst, was du suchst. Oder ob du nicht lieber zurückgehen willst.«
Die Geschichte von Timurs Wolfszahn. Die Geschichte von Timurs Marmorkugel. Timurs Korankugel. Die Geschichte von Timur und Nazira. Von Timur und Toktamisch. Bei jedem Volk heiße sie anders, jedes Volk erzähle sie anders. Kaufner war wieder wach,
diese
Geschichte wollte er auf jeden Fall hören. Und Nazardod, weiß Gott, er wußte sie zu erzählen! Es war nicht das erste Mal, daß er es tat, und es würde nicht das letzte Mal sein. Aber er tat es auf eine Weise, als erzähle er um sein Leben, sein eigenes Leben. Bald glaubte Kaufner, daß er nur deshalb jahrelang hatte suchen müssen, um Nazardods Schäferhütte zu finden und die Geschichte, die ihn darin erwartet hatte. Nichts auf seinem Weg war im Rückblick ein bloßer Zufall gewesen, alles hatte sich schicksalhaft zusammengefügt. Auch Nazardod war ihm vorherbestimmt gewesen, man sah es schon an der Art, wie er sich in die Brust warf, man hörte es an der Art, wie er die Einleitungssätze intonierte, die am Anfang jeder Geschichte zu stehen hatten. Es war nicht das erste Mal, daß Kaufner einem Geschichtenerzähler in einem der Bauernhöfe oder einer der Schäferhütten lauschte. Allerdings noch nie einem, der in seinen Zuhörer fuhr wie der Leibhaftige, als wolle er ihn mit seinen Worten vom rechten Glauben abbringen:
Alle Geschichten kommen aus Samarkand, wie du weißt. Dies ist die Geschichte von Timur-lenk, Timur dem Lahmen, der bei euch auch Tamerlan genannt wird. Der Sage nach wurde er mit einem Klumpen geronnenen Blutes in der Faust geboren wie einst Dschingis Khan; und wieder prophezeiten die Schamanen, daß es ein gewaltiger Krieger werde: Timur, der Herr der Glückskonjunktion, der Großmächtige Sultan, Allergnädigste Khan und König des Diesseits – Gott heilige seine Grabstätte! Timur, der Große Wolf, der Blitz, das Eisen, die Faust Gottes! Kaum leckt sich der Säugling in der Wiege die Muttermilch von den Lippen, nennt er sogleich Timur bei seinem Namen! Die ganze Welt preist ihn, möge ihm Gott einen Platz an seiner Seite eingeräumt haben!
So beginnt die Geschichte, wenn sie ein Usbeke erzählt. Dabei war Timur gar keiner der ihren, erst hundert Jahre später kamen sie nach Samarkand. Er war Tatar, anfangs nur ein kleiner Emir unter vielen, Abenteurer und Pferdedieb, der nicht mal lesen und schreiben konnte, ein Söldner, der sich wechselnden Herren andiente. Im Norden die mongolischen Banditen, im Süden das gotteslästerliche Treiben der iranischen Diadochen, im eigenen Land das Chaos der Clanherren – es sollte ein paar Jahrzehnte dauern, bis Timur die Herrschaft fest an sich gerissen und alles rundum unter dem Willen des Himmels vereint hatte, von Konstantinopel bis China, von Moskau bis zu den Mamelucken in Kairo, von Damaskus bis Delhi: Solch ein Eroberer wird man nicht aus freien Stücken, dazu ist Schmerz vonnöten. Von diesem Schmerz will ich erzählen.
Erzählen will ich vom alten Timur, von den schweren Jahren, die auf das Schicksalsjahr 1388 folgten, da war er bereits über fünfzig und auf dem Weg, der schlimmste Bluthund zu werden, den die Welt gesehen, der schlimmste Schlächter im Zeichen des Glaubens, möge ihm Gott einen Platz in der Hölle angewiesen haben! Sein einstiger Ziehsohn Toktamisch hatte die Blaue mit der Weißen Horde vereint; als Goldene Horde beherrschte sie Rußland bis weit über die Wolga hinaus nach Westen und im Osten bis zum Aralsee hinab. Schon im Herbst 1387 , während Timur im Iran wütete, Dutzende von Tagesreisen entfernt, waren Toktamischs Streiftrupps plündernd bis nach Shar-i Sabs vorgedrungen, hatten Buchara belagert und Timurs Statthaltern da und dort Niederlagen beigebracht.
Im Januar 1388 , da der Gebieter selbst in Gewaltmärschen nahte, um seine Hauptstadt vor Toktamisch zu schützen, zogen sich dessen Truppen schnell wieder zurück und verschwanden in den weiten Steppen jenseits des Aralsees. Nicht ohne zuvor noch einen Teil von Timurs Harem zu rauben, der ihnen zufällig in die Hände gefallen. Schmählich genug! Darunter eine Sklavin namens
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