Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
kam. Und warum womöglich, wie im Falle Deutschlands und der Operation 911 , alles fernab des Geschehens, in einem ganz anderen Weltteil entschieden wurde. Dennoch würde es Krieg sein, selbst wenn man vermied, es offiziell so zu nennen.
Aber bis dahin sollte es noch einige Monate dauern. Heute saß am Einlaß zur Altstadt nur ein friedfertiger Alter aus dem nächstgelegenen Teehaus. Und machte trotzdem Probleme, als Kaufner und Shochi Einlaß in sein Reich begehrten, schließlich kamen sie geradewegs aus dem Zigeunerviertel. Dort verkehrte ein braver Bürger nicht, ob sie etwa Haschisch gekauft hätten? Oder Hehlerware? Der Alte traute den Zigeunern alles zu, nicht umsonst würden sie im Müll leben. Er selber, nach rechtgläubiger Art gebartet, hätte auch an einem Westler wie Kaufner manches zu monieren gehabt; da fuhr in seinem Rücken ein Mannschaftswagen der Polizei vor, die Polizisten saßen ab, marschierten los. Woraufhin ein Geschrei einsetzte, das seine Aufmerksamkeit im Amt schlagartig erlahmen ließ.
Alle drei eilten sie mehr oder weniger gemeinsam zum Ort des Geschehens, ein Mausoleum, das Kaufner bereits kannte. Um das Grab des Heiligen lagen große schwarze Kiesel, Repräsentanten von Gelehrten, die andernorts begraben waren – so suchten sie noch als Tote die Nähe des Verstorbenen, um an seiner Aura teilzuhaben. Kaufner hatte vor Jahr und Tag lange davor verharrt und überlegt, ob es im Fall von Timurs Grab, dem echten, versteht sich, vielleicht ähnlich gehandhabt wurde. Aber darum ging es jetzt natürlich nicht. Es ging um den Derwisch, noch stand er, laut predigend, den Zeigefinger zwischen den Seiten des Korans und den Koran hoch übern Kopf erhoben; die Masse seiner Zuhörer blockte ihn gegen die Polizisten ab, die nur mühsam vorankamen.
Seit wann berief sich denn ein Derwisch auf den Koran? Sie hielten sich doch für erleuchtet und etwas Besseres als die Schriftgelehrten? Ein Flickengewand trug er auch nicht. Anstatt zu predigen, hetzte er gegen den Präsidenten, der sei bloß ein Handlanger des Westens, dem Alkohol und anderen Ausschweifungen verfallen:
»Er ist ein lebendiges Stück Fleisch mit zwei Augen!«
Und seine Tochter keinen Deut besser, eine Hure des Westens und … In diesem Moment hatte sich der erste Polizist zu ihm durchgekämpft, wenige Augenblicke später wurde der falsche Derwisch unter dem Wutgeheul seiner Anhänger abgeführt. Sein Satz über den Präsidenten blieb, machte in Samarkand rapide die Runde.
Auch die anderen Derwische, ob echt oder falsch, die sich an den großen Heiligengräbern mittlerweile rudelweise herumtrieben, wurden an jenem Tag alle eingesammelt und auf Armeelastwagen weit in die Rote Wüste gefahren, Richtung Aralsee, wo sie auf kleine Dörfer verteilt wurden. Nicht nur in Samarkand! In sämtlichen Städten des Landes hatte man sie aufgegriffen, wie sich in den Abendnachrichten herausstellte, allesamt seien sie Volksverhetzer und Agitatoren der
Faust Gottes
. Nun hätten sie Zeit und Gelegenheit, in sich zu gehen. Schlimmstenfalls würden sie Monate brauchen, so die Rechnung der Regierung, um in die Städte zurückzuwandern, bis dahin hatte man vor ihnen Ruhe.
Die
Faust Gottes
, natürlich. Nur einen einzigen hatte man in Samarkand auf seinem Platz an der Mündung der Taschkentstraße sitzen gelassen, er hatte schon mehrfach so eindrucksvoll gezaubert, daß man sich nicht traute, ihn anzufassen. Außerdem hatte er angekündigt, den Schnee um sich herum zum Schmelzen zu bringen. Man wollte zumindest den ersten Schnee abwarten, vielleicht würde er sich ja doch noch als Aufschneider erweisen.
Aber bevor Kaufner und Shochi wieder zu Hause waren, wo man sich neuerdings abends immer in Shers Büro zusammenfand, um den
Aktuellen Blickpunkt
zu sehen und die neueste Fünfminutenbotschaft des Präsidenten, im Anschluß gegebenenfalls auch nach neuen
YouTube
-Videos zu suchen, um den Wahrheitsgehalt der Meldungen zu überprüfen – bevor sie den Tag in der Geborgenheit ihres eigenen Wohnviertels beschließen konnten (so der Propaganda-Clip, der seit Installation der Friedenswächter gezeigt wurde), erblickte Kaufner in der Menge, die sich vor dem Mausoleum zerstreute, erst noch die Frau im Goldkleid. Mußte das Kleid einer Muslima nicht so weit geschnitten sein, daß man die Körperkonturen nicht erkennen konnte? Kaufner sah ihr gebannt hinterher, einer Frau im knöchellangen Goldkleid, so raffiniert eng um ihre Hüften fließend, daß selbst er drauf
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