Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
und dran war, den Kopf darüber zu schütteln. Weil es sonst an ihrem Anblick ja nichts zu erhoffen gab, sah er ihr auf die Fersen, die unterm Saum des Kleides nackt aufblitzten.
Hatte er nicht im letzten Jahr, auf dem Bazar, schon mal eine – die? – Frau im Goldkleid gesehen? Damals war Shochi richtig sauer auf ihn gewesen. Diesmal ließ sie sich tagelang nicht blicken, nicht mal das Gejaule des kleinen Hundes, zu dem Jonibeks Welpe mittlerweile herangewachsen war, konnte sie in den Hof locken. Aber vielleicht wartete sie nur ab, wann ihr Traum eintreffen würde.
War’s denn möglich, daß Shochi eifersüchtig war? Mit ihm reden wollte sie erst wieder im Dezember, nach ihrem Geburtstag, da erzählte sie ihm den Traum. Nicht daß ihn Kaufner unbedingt hätte hören wollen! Nicht daß er dazu jetzt unbedingt mit ihr noch ins Saliniaviertel gemußt hätte! Kaufner war müde. Auch er war in diesem Sommer ein Jahr älter geworden, er spürte es. Obendrein hatte er einen Auftrag, in dem Timur und sein tatsächliches Grab eine Rolle spielten, nicht etwa Odina und der Ort, an dem er heimlich verscharrt worden.
Aber der Nachbar hatte nun mal gesagt, der Sterbende sei vielleicht ein Zigeuner gewesen, vielleicht einer aus dem Saliniaviertel. Und im Saliniaviertel war Kaufner noch nicht gewesen, noch nie gewesen, Shochi insistierte so anhaltend darauf, daß man sich fragen mußte, welches Interesse sie womöglich selber bei der Sache verfolgte. Zu allem Überfluß hatte es stark geschneit und schneite weiterhin, sie wollte unbedingt erst zur Taschkentstraße, wo der Heilige? den Schnee tatsächlich zum Schmelzen brachte. Er saß im Mittelpunkt eines Kreises, in dem die Flocken sofort zerflossen, sobald sie den Boden berührten. Die Schaulustigen raunten einander zu, daß er aus dem Hochland von Täbris stamme; daß er in Damaskus einen wilden Tiger, den man auf ihn gehetzt, als zahmes Reittier benutzt hatte; in Isfahan einen bösartigen Vogel Strauß, mit dem er Hunderte von Metern durch die Luft geflogen sei. Und daß er nur mehr ein einziges Mal am Tag einatme, so heilig sei er bereits.
Man sollte ihn in einen Kessel mit kochendem Wasser stecken, flüsterten einige, sonst bringe er noch Unheil übers ganze Land. Aber auch Kaufner hätte einen Heiligen, der offensichtlich zaubern konnte und sogar die Elemente beherrschte, nicht gegen seinen Willen angefaßt.
Unter den offiziell für verrückt Erklärten gab es also welche, die man von Staats wegen duldete, nur die Eiferer wurden verhaftet. Es dauerte eine Weile, bis Kaufner begriffen hatte, daß die echten Derwische nichts anderes als Sufis waren, deren mystische Auffassung des Islam als ungefährlich angesehen wurde; sie kamen zumeist aus Turkestan oder dem Iran, einzelne aus Anatolien oder dem Zweistromland. Die anderen waren Heilige Krieger, die ihre Waffen vorübergehend in den Bergen gelassen, um neue Anhänger zu gewinnen. Sie kamen, jedenfalls nach Auffassung der Regierung, aus Afghanistan, Pakistan und, natürlich, Tadschikistan. Es wurde immer komplizierter. Und das vielleicht nur, weil Usbekistan mit dem Westen verbündet war.
Da Marschrutkas in diesem Winter wieder erlaubt waren, fuhren Kaufner und Shochi von der Taschkentstraße direkt bis zum Bahnhof. Kurz nach dem Start hielt ein Polizist den überfüllten Kleinbus auf, sofort bot ihm eine alte Frau ihren Platz an und stieg aus. Die ganze Fahrt über sah man Bauarbeiter die Straße verbreitern und die angrenzenden Häuserblocks mit Betonwänden abschotten.
Auf dem weitläufigen Bahnhofsvorplatz fand auch heute ein schäbiger Markt statt. Am Rande saßen die Säufer auf Betonklötzen und – Moment mal, Kaufner, die hast du doch? Richtig, die hast du schon mal gesehen. In einem früheren Leben, so weit schien’s ihm zurückzuliegen. Die Säufer saßen und sahen zu, wie die mit Zwiebeln gefüllte Ladefläche eines Lastwagens gekippt wurde. Ein Mann mit Wasserkopf verkaufte aus dem Kofferraum seines Pkws heraus Rinderbeine, von hinten sah sein nackter Schädel aus, als habe er drei Wirbel. Eine bis auf den Augenschlitz vermummte Frau bot auf ihrem Klapptisch kleine Kuchen an, sie waren von Bienen überwimmelt. Bienen im Winter? Das konnte doch gar nicht sein. Als Kaufner ob des Anblicks stehenblieb, riet sie ihm vom Kauf ab, die Kuchen seien zu alt. Woraufhin sie aus einem Sack eine Art Plundergebäck hervorholte, um es ihm zu schenken.
»Nein, nicht für mich!« wehrte Shochi ab: »Für dich! Weil du
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