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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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überragend: Shochis Lieblingsort, hierher komme sie seit Jahren.
    Wann sie denn das letzte Mal auf der Brücke gewesen sei?
    Vorgestern.
    Sie gingen am Bahngleis entlang, auf der Böschung drei Schafe und ihr Hüter, etwas später ein angeleintes Huhn. Vorbei an einem Bahnwärterhäuschen, darinnen eine Runde Zecher, und auf die Brücke hinauf, eine simple Stahlkonstruktion auf grob gemauerten Pfeilern. Kaufner erblickte weitere Pfeiler knapp daneben, als hätte man in besseren Zeiten eine zweite Brücke bauen wollen. Weit vor ihm Shochi, schwankend schwebende Tuchsäule zwischen Gleis und Geländer. Etwa dreißig Meter darunter das Tal mit dem trüben Band des Kanals, die umgebenden Hügel. An den Abbruchkanten Baracken, das Erdreich mit Drähten und Wellblech notdürftig befestigt.
    In der Mitte der Brücke blieb Shochi stehen, wartete, bis Kaufner aufgeschlossen hatte: Von hier aus schreie sie ihre Träume ins Tal. Irgendwann, wenn die Schmerzen nicht mehr auszuhalten sein würden, werde sie von hier losfliegen. Direkt in den Himmel.
    Der Blick ging weit über die Stadt nach Süden, die Serafschanberge tief verschneit als Horizont.
    Und vorgestern?
    Hatte sie von der Nachbarin geträumt. Bereits zum dritten Mal!
    Es dauerte ein bißchen, bis Kaufner begriffen hatte, daß Shochi
die
Nachbarin meinte, die Frau in der Leoprint-Jacke, die –
    »Genau die, Ali. Sie wird …«
    Shochi hob mehrfach zu sprechen an, schnappte nach Luft. Man hatte ihr bei Strafe verboten, derlei zu erzählen; Kaufner jedoch wollte endlich einmal genauer hören, was und wie sie träumte, wenn sie träumte. Er mußte sie in den Arm nehmen und versichern, daß er’s wirklich – wirklich – wirklich wissen wolle.
    Also die Frau. Sie habe Shochi herbeigewunken, wie sie’s seit Jahren nicht mehr tue, weil … »Du weißt schon, Ali.« Früher, wenn sie auf ihrem Schulweg das Haus der Nachbarin passiert, habe sie von ihr oft etwas Süßes zugesteckt bekommen. Jetzt, also im Traum, habe es Shochi gar nicht glauben wollen, daß ihr die Frau wieder gewunken; sie sei stehengeblieben und habe zu ihr hinübergeschaut, die reglos in ihrer Hofeinfahrt stand, darauf wartend, daß Shochi näher kam. Schon da sei ihr Gesicht »irgendwie komisch« gewesen, »wie von innen aufgeblasen«. Und dann sei sie böse geworden, weil Shochi noch immer keine Anstalten machte, sich die Süßigkeit abzuholen. Aber sie habe ja ihre Beine gar nicht mehr bewegen können, außerdem sei die Frau immer dicker geworden, immer größer, so dick und so groß, daß sie erst die Hofeinfahrt, dann auch die Straße, überhaupt alles ausgefüllt und Shochi beinah erdrückt hätte! Shochi habe schreien wollen, nicht mal das sei mehr möglich gewesen, sie habe sich mit beiden Armen gegen die Frau gestemmt, vergeblich, sicher wäre sie im nächsten Moment erstickt. Stattdessen sei sie jedoch geplatzt, also die Frau, vom Knall sei Shochi aufgewacht. Der Kopf habe ihr gedröhnt, der ganze Körper wie zerschlagen. Sie erkenne die Schmerzen sofort, es seien immer die gleichen. Und da habe sie es gewußt.
    Die Tränen traten ihr in die Augen, liefen ihr linksrechts ins Tuch hinein.
    Die werde sterben. Bald. Verraten dürfe er’s wirklich – wirklich – wirklich niemand.
    Kaufner versprach’s. Mußte sie lange im Arm halten, ein zitternes Bündel, das so gern ohne Träume schlafen würde, so gern. Nun hatten sie ein Geheimnis miteinander.
    Allerdings nicht lange. Schon wenige Tage später explodierte im Haus jener Nachbarin eine Gasflasche, die Frau überlebte mit schweren Verbrennungen, lag zwei Wochen im Krankenhaus, ehe sie ihren Verletzungen erlag. Shochi und Kaufner wechselten darüber kein Wort. Beim gemeinsamen Mittag- wie auch Abendessen waren Shochis Augen einige Tage lang so blau, daß Kaufner meist auf seinen Teller blickte.

    Die Tote wurde über Nacht zu Hause aufgebahrt, von Stunde zu Stunde fanden sich mehr Frauen mit weißen Kopftüchern ein, die vor dem Hoftor weinten, kreischten, schwiegen. Als die Männer am Morgen die Tote auf einer Trage aus dem Haus trugen, drängten ihrer Hunderte in der Straße, ein Lieferwagen hätte kein Durchkommen mehr gefunden. Nur die Männer gingen zur Beerdigung, Kaufner unter ihnen. Beobachtete, auf welche Weise die Richtung nach Mekka bestimmt und das Grab ausgehoben wurde – wer weiß, was ihm das nutzen mochte, so er Timurs Versteck gefunden haben und Teil zwei seines Auftrags anstehen würde.
    Vierzig Trauertage lang sollten die

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