Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Frauen und herumrennende Kinder, indes auf keinen einzigen Mann. Kaufner legte im Vorübergehen kurz die Hand aufs Herz und nickte nach linksrechts, keiner erwiderte seinen Gruß. Nach Odina zu fragen war unmöglich; sobald Kaufner auf eine der Hockenden zutrat, begannen alle auf einmal, zu kreischen und mit dem Finger in eine Richtung zu zeigen, hier gehe es entlang, hinaus aus dem Viertel, hier. Plötzlich stand eine junge Schönheit vor Kaufner, einen Eisenkessel in Brusthöhe vor ihm schwenkend, aus dem ein kräftig qualmender Weihrauch aufstieg. Schon umkreiste sie ihn singend, Shochi zog ihn schnell weg, die Schönheit lachte ihnen bös hinterher. Nun sah man erst, daß sie keinen einzigen Zahn mehr hatte.
Steppenraute! erklärte Shochi, indem sie, Kaufner weiterhin an der Hand ziehend, das Viertel am entgegengesetzten Ende so schnell wie möglich zu verlassen strebte: »Die Zigeuner verwenden sie auch. Sie singen Zaubersprüche dazu und du mußt ihnen Geld geben. Aber ihr Zauber ist böse, du kriegst ihn nie wieder los.«
Erstaunlich, daß Shochi dieser Bezirk nicht mit weit größerer Strenge verboten war. Vermutlich weil es zwecklos gewesen wäre. Jetzt jedoch mußten die beiden aus dem Viertel hinaus- und ins nächste hineinkommen, es ging durch ein Fabrikgelände, auf dem Zementplatten gegossen wurden, dahinter begann die ganz normale Altstadt. Allerdings mit einer übermannshohen Betonmauer, deren man im Verlauf des letzten Jahres überall in Samarkand errichtet hatte – jedes Mal, wenn Kaufner von einer seiner Fahrten mit dem KGB -Chef in die Stadt zurückgekommen, hatten sie kompliziertere Umwege bis zum
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in Kauf nehmen müssen. Am Einlaß der Mauer, die er nun mit Shochi zu passieren hatte, saß ein Friedenswächter, wie sie im jüngsten Gesetzeserlaß der Regierung genannt wurden: einer der Alten, die rund um die Uhr aufzupassen hatten, wer in ihrem Bezirk ein und aus ging.
Bis auf das Stadtzentrum (vom Bazar am Ende der Taschkentstraße über den Registan zur Russenstadt am Universitet Boulevard), bis auf Außenbezirke und Problemviertel, die sowieso von der Verwaltung aufgegeben waren, konnte man sich jetzt in jedem Wohnviertel noch sicherer fühlen. So die offizielle Propaganda. Und die Rentner aus den Teehäusern der Gusare, die da seit einigen Tagen mehr oder weniger leutselig an den Toren und Einlässen thronten, nickten jedem entsprechend freundlich zu, der vorbeikam. Es sollte noch ein paar Wochen dauern, bis ihnen zunächst Polizisten zur Seite gestellt wurden, ein paar weitere Wochen, bis die Alten selbst zur Seite rücken mußten. Kurz darauf wurden die Kontrollposten komplett vom Militär übernommen.
Für Kaufner war und blieb es in der Regel ein Leichtes, die zahlreichen Schleusen zu passieren, kaum einmal wurde er ernsthaft aufgehalten. Andere schon! Vor allem Männer wurden von den Sicherheitskräften gern abgewiesen, sofern sie sich nicht ausweisen konnten, es kam zu Rangeleien, manchmal zu Verhaftungen. Wahrscheinlich wollte man nicht zu viele Usbeken in die tadschikischen Viertel hineinlassen. Oder umgekehrt, keiner verstand das System so recht.
Klar war nur, daß die Regierung auf die Entwicklung vorbereitet und festen Willens war, sie unter allen Umständen im Griff zu behalten. Wenn Kaufner daran dachte, wie schnell die Hamburger Behörden jegliche Kontrolle über ihre Stadt verloren und wie viele unterschiedliche Kiezfürsten und private Sicherheitsfirmen Häuserblock für -block binnen weniger Tage an sich gerissen hatten! Und wie oft die Kontrollinstanzen seitdem gewechselt hatten, mit welcher Willkür sie passieren ließen oder den Durchgang verweigerten, wie sehr man bestrebt sein mußte, unter keinen Umständen aufzufallen und zu allem seinen Mund zu halten. Nun, das würde sich auch in Samarkand schlagartig ändern, sobald es den ersten gelungen war, die Sperren zu überwinden und Unfrieden in die ummauerten Viertel hineinzutragen. Lebten dort, im Stadtzentrum, nicht vor allem Tadschiken? Vorerst wurden sie an den Kontrollpunkten nur schikaniert, die ranghohen Polizisten waren durch die Bank Usbeken. Mit Vorliebe reizten sie Halbstarke, bis diese die Beherrschung verloren, dann konnten sie auf sie einprügeln.
Der Krieg würde auch hier in den Städten geführt werden, dachte Kaufner: Wohnviertel für Wohnviertel. Auch hier würden sie sich wundern, warum es nirgendwo zu größeren Schlachten und direkter Konfrontation mit einem militärischen Gegner
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