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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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ein Fremder bist und … weil sie dich schön findet.«
    Der Zug aus Taschkent fuhr nur einmal täglich ein, manchmal gar nicht. Hatte man den Friedenswächter neben dem leerstehenden Bahnhofsgebäude passiert, ging man einfach über die Gleise, um ins Saliniaviertel zu gelangen. Dahinter begann der rechtsfreie Raum.
    Von der anderen Seite der Gleise kam ihnen einer barfuß entgegen, er ging durch Schnee und Matsch, als wäre es eine Sommerwiese, bedächtig torkelnd wie einer, der nirgendwo ankommen will. Kaum wurde er Kaufners ansichtig, versuchte er, ihm um den Hals zu fallen; nachdem ihm versichert worden, daß Kaufner kein Russe war, entschuldigte er sich aufwendig.
    Als nächstes wurde Kaufner von einer Bande Straßenkinder entdeckt und umgehend eingekreist, »Bonbon!«, am Ärmel gezupft, »Rutschka!«, eskortiert, »Monni!«, beschimpft und belacht. Shochi wies sie schließlich in scharfem Ton ab, sie gehorchten ihr auf der Stelle. Dann das Flickwerk der Hütten, mit Wellblech umgrenzte Grundstücke, aus denen die immergleiche russische Radiostimme stieg. Zwischen den Lehmhügeln Trampelpfade, die üblichen gelben Gasrohre, man roch, daß sie undicht waren. Kleine schwarze Hunde wühlten im Abfall, der sich in den herumstehenden Autowracks angehäuft hatte; Männer gossen Lehmziegel auf offener Straße. Ein bettelnder Greis; eine Hure, die Kaufner zuwinkte, weil sie ihn aus dem
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kannte; ein Kleinkind mit Schuhen, die bei jedem Schritt aufquietschten.
    Wie häßlich Samarkand war, im Winter erst recht! Aber im Saliniaviertel war es von einer derartigen Trostlosigkeit, mit Worten gar nicht zu beschreiben. Kaufner, mehr mit Weg- als mit Hinsehen beschäftigt, kam der Rat seines Führungsoffiziers in den Sinn:
    »Samarkand Samarkand … Sie müssen die Augen schließen und es zwei Mal sagen, dann sehen Sie, was wir meinen: die Kuppeln, die Minarette, die Bazare. Und dahinter schon die Rote Wüste.«
    Öffnete man die Augen, sah man Kinder, die sich mit Kotklumpen bewarfen, kaum bekleidete Alte, die auf rostigen Bettgestellen im Freien saßen. Wer hier hauste, hatte viel Zeit. Er mußte sich von schlechtem Pferdefleisch ernähren, schmutziges Wasser trinken, bis zum Frühling waren ihm die Klos verstopft.
    Aber keiner regte sich auf, selbst in diesem Viertel ging es ganz leise zu. Fast freundlich nickte man den beiden zu, wenn sie vorübergingen oder kurz innehielten, um nach Odina zu fragen. Wahrscheinlich lag es an Shochi.
    Wie bitte, ein Schwerverletzter, ein Toter, womöglich ein Russe? Kein Russe? Ach, ein Tadschike? Ja, davon gebe’s genug, allerdings erst wieder »drunten«, »in der Stadt«. Übrigens gehöre auch Tadschikistan heim in die Föderation, jawohl.
    Erstaunlicherweise behaupteten andere, den Jungen tatsächlich zu kennen. Ganz sicher, sie hätten ihn öfter gesehen, er wohne hier, sei ihr Freund. Sofern Kaufner dann den Gesuchten näher beschrieb, verneinten sie ebenso massiv, wie sie gerade bestätigt hatten. Man kannte ihn und kannte ihn doch nicht. Im Grunde paßte das ja ganz gut zu Odina; auf seine Spur kam Kaufner dadurch aber nicht. Am Ende ließ er sich von Shochi wenigstens zum Friedhof führen. Ein russisch-orthodoxes Wirrwarr an umzäunten Grabsteinen und -platten, es erstreckte sich über mehrere Lehmhügel. Viele der rostigen Eisenkreuze waren mit Streifen von Silberpapier geschmückt, auf den Gräbern standen kleine Steintische und -bänke für die Feiern der Lebenden mit den Toten. Ein verwunschener Ort. Auch frisch aufgeworfene Erdhaufen gab es, mit Tannenzweigen gedeckt und schwarzem Trauerflor daran. Zum Kanal hin endete der Friedhof jählings in einem steilen Abbruch, Kaufner rutschte ihn auf dem Hosenboden hinunter, auf dem ausgewaschenen Hang war nirgends Halt zu finden. Shochi hingegen, jetzt sah man, daß sie oft hier herumgetollt haben mußte, sie rannte ihn wild wie ein Junge hinab.
    Früher, als sie noch keine Träume gehabt, habe sie die Sommerferien immer bei ihrer Großmutter in den Bergen verbringen dürfen, seitdem könne sie klettern, am liebsten um die Wette.
    Shochi. Weil Kaufner beim Wettklettern nicht ziehen wollte, entschloß sie sich kurzerhand, ihm etwas zu zeigen. Den Kanal ein Stück entlang und dann einen ähnlichen Steilabbruch wieder hinauf und über unbefestigte Wege, an denen nach wie vor die sowjetrussischen Straßenschilder standen. Direkt dahinter eine wuchtige Eisenbahnbrücke, die Kanallandschaft in beträchtlicher Höhe

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