Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Schulen, Krankenhäusern, selbst die Lebensmittel wurden von gelb lackierten Lkws, immer in Kolonne, aus dem fernen Kashgar antransportiert. Die Völkerwanderung, die auch in Tadschikistan demnächst anstand – so erwog es Kaufner –, würde die usbekischen Flachlandbewohner nach Westen und über die Grenze hinweg, die Tadschiken jedoch in ihrem eigenen Land bergauf treiben, dorthin, wo sie sich dann als Schäfer allenfalls gegen Kirgisen behaupten mußten.
Der Tag, da die Chinesen aufhören würden zu winken, war freilich noch fern. Die weit größere Gefahr waren im Moment tadschikische Polizisten, die in den Tälern jedem auflauerten, dem sie Geld abpressen konnten. Sofern sie in Kaufner den Deutschen erkannt hatten, zeigten sie stolz auf ihre Augen, er sehe ja selber, sie und er gehörten derselben großartigen Rasse an. Verfluchter Arierwahn! Bestochen werden wollten sie nichtsdestoweniger alle.
Im
Tal, das von Wolken verdunkelt wird
war es nicht anders. Hier lag eines der größten Heiligtümer des Landes, eine Piste führte bis wenige Kilometer hinter den Iskandersee. Dort, wo sie abrupt aufhörte und die Wagen kreuz und quer abgestellt waren, begann der Aufstieg. Kaufner war überrascht, wie viele Menschen sich eingefunden hatten, ein regelrechter Rummel im Niemandsland, zahlreiche Läden, Restaurants, am Wegrand kauernd Kräuterweiblein, kleine Jungs gingen umher und verkauften Bergblumenkränze, Proviant, Souvenirs, ein Blinder schlug die Doira und sang dazu. Das eine oder andere Auto wurde mit vereinter Manneskraft aus dem Weg getragen, wenn einer der Zugeparkten wegfahren wollte, ansonsten wurde gegrillt, gelagert, gefeiert.
Bis hierhin hatte alles wie eine Art Sommerfrische ausgesehen, die Pilger waren Kaufner wie Sonntagsausflügler erschienen. An der Stelle, wo sich das Tal verengte und die Pilgerscharen zur Prozession formierte, standen die Polizisten und kassierten jeden in Ruhe ab: Öffentliche Religionsausübung war in Tadschikistan? Richtig, Bruder, von Staats wegen verboten, Wallfahrt erst recht.
Der Aufstieg zur heiligen Höhle war ein Treppenweg, weiterhin von zahlreichen kleinen Läden gesäumt. Hohe schmale Stufen, die Odinas Esel mit Mühe bewältigte, der Junge schubste ihn, »Paa-tschup«, das Gepäck rutschte seitlich ab, »Hadschia«, mußte bis auf den Holzsattel abgenommen und neu arrangiert werden. Der Esel pumpte sich beim Beladen auf, schrie. Odina schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hals, »Schhhh«, zog die Seile fest, indem er sich mit einem Fuß am Bauch des Esels abstemmte, dann ging es weiter.
Aber nur bis zum Wunschbaum, der auf halber Höhe des Berges stand, der Esel verkeilte sich in seinen tief in den Weg hineinragenden Ästen. Kaufner und Odina zogen ihn heraus, dabei rutschte Kaufner von einer der Stufen ab, ein stechender Schmerz. Da der Knöchel so schnell nicht abschwellen wollte, stiegen sie bis zu einer der Buden, in der Murmeltieröl und tausenderlei andere Essenzen in kleinen Fläschchen verkauft wurden. Der Händler war gleichzeitig Heiler, er bestrich Kaufners Fuß kreuzweise mit Schlangenfett, das er zuvor auf einem Gaskocher erwärmt hatte, wickelte den Fuß anschließend warm ein. Während sie alle drei gesalzenen Milchtee tranken, in den sie altes Brot tunkten, bis es weich wurde, erstand Kaufner das angebrochene Fläschchen. Der Heiler lobte ihn dafür, sein Schlangenfett helfe auch gegen Brüche, Rheuma, Krampfadern, Hautflecken. Bevor Kaufner darüber lächeln konnte, fühlte er, wie der Schmerz nachließ.
Ehe sie weitergingen, kaufte Odina noch einen der Wolfszähne, die an blauweiß gekordelten Halsbändern angeboten wurden. Und schenkte ihn Kaufner, er werde ihn brauchen. Der Wolf sei der »König der Natur«; ihm am Morgen zu begegnen verheiße einen glücklichen Tag. Sein Zahn gebe Kraft, er helfe gegen den bösen Blick »und gegen alle anderen, hundert Prozent, Herr«. Mit ebenjener rätselhaften Formulierung drückte Odina den Zahn in Kaufners Hand; hatte er »alle anderen« gemeint, die sich im Gebirge herumtrieben? Wie zur Bestätigung ergänzte der Händler zum Abschied, ein Wolf wolle Blut schmecken, sein Zahn wolle es auch.
Von Schritt zu Schritt ging es besser, das Schlangenfett wirkte, selbst wenn man nicht daran glaubte. Die Tücher, die man an die Zweige des Wunschbaums knüpfe, täten es nicht minder, versicherte Odina bei einer Rast. Man dürfe den Wunsch allerdings nur ganz leise in sein Taschentuch hineindenken, bevor man
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