Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
es zerreiße.
Bis zum Gipfel herrschte ein reges Treiben, zwischen den Hütten der Händler hockten Frauen, die Gesichter bis auf den Augenschlitz verhüllt, und verkauften Wurzeln, Honig, Plastikspielzeug. Auf der Bergkuppe dann das Mausoleum für den Heiligen, davor ein Derwisch, der von der baldigen Wiederkehr des Mahdis predigte und dem Anbruch der Endzeit. Drinnen auf seine bescheidene Weise der Imam, für jeden der Neuankömmlinge betend und singend.
Die Höhle lag auf der anderen Seite des Bergs ein Stück tiefer, man mußte regelrecht Schlange stehen, bis man hineindurfte. Am Eingang übermannshoch, verjüngte sie sich fast so zielstrebig wie ein Trichter; mithilfe weniger Kerzen war sie effektvoll beleuchtet. Die Pilger hatten bis zum Ende der Höhle zu gehen und dort auf Kommando abzuhocken, wo sich der Spalt im Fels endgültig verengte. Der Heilige, so wurde ihnen erzählt, habe hier mit der verborgenen Welt gesprochen. Am Ende seines Lebens habe er den Kopf abgenommen und sei Richtung Mekka in den Berg hineingegangen, indem er den Fels mit beiden Händen auseinandergedrückt. Tatsächlich sah man an mehreren Stellen die Kuppen seiner fünf Fingerspitzen, wie sie sich ins Gestein eingegraben hatten. Kaufner erwog, ob man Timurs Überreste hier hätte verstecken können, mußte sich aber eingestehen, daß es im schieren Fels ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre.
Die Pilger übernachteten in simplen Bretterverschlägen unterm Gipfel. Kaum daß man ihm endlich das Gepäck abgenommen, wälzte sich Odinas Esel auf der Erde, drehte sich auf den Rücken, um den Druck der Last wegzureiben. Kaufner schenkte Odina einen 10 -Terabyte- USB -Stick, um sich für den Wolfszahn zu revanchieren. Darüber geriet Odina dermaßen außer sich (Wenn er den zu Hause herzeige, würden ihm alle Mädchen des Dorfes hinterherlaufen), daß er den Abend über richtig redselig wurde:
Sein Stamm werde von Jahr zu Jahr kleiner, weil die Schwächsten in die Städte abwanderten und sich dort so schnell wie möglich in Städter zu verwandeln trachteten. »Wir gehen unter, aber unser Rücken bleibt dabei gerade.«
Und nachdem er eine Weile seine Lieblingslieder vorgesungen und erklärt hatte: Kaufner solle nicht vergessen, den Wolfszahn in Blut zu tauchen, das mache ihn stärker. Den Zahn und damit seinen Träger.
»Herr, im Gebirge gilt ein anderes Gesetz als in den Ebenen.« Überall sei es streng, doch dort, wo die Berge zu eng aneinanderständen und der Weg nur Raum für einen einzigen gebe, kenne es keine Gnade. Auch einer wie Januzak trage seinen Wolfszahn am Hals. »Und glaub mir, er hat ihm schon viel Blut zu schmecken gegeben.«
Damals hatte Kaufner darüber den Kopf geschüttelt und den Zahn am nächsten Tag in seinem Rucksack verschwinden lassen. Jetzt erst, nach der Begegnung mit dem Kirgisen, verstand er Odinas Geschenk und erhob sich. Stellte erstaunt fest, daß er das Abendessen verdöst und verträumt hatte, draußen schneite es diesen wunderschön weißen Nachtschnee. Morgen früh würde das Gur-Emir mit einer Neuschneehaube leuchten. Nachdem Kaufner das Halsband mit dem Wolfszahn in einer Seitentasche seines Rucksacks gefunden hatte, legte er es, ohne zu zögern, um. Nun wußte er, wie er sich von seinem Makel reinwaschen würde. Er würde das Band nicht eher ablegen, bis – still, dachte er, das darfst du nicht mal leise denken. Ein Taschentuch, das du auf diesem Weg zerreißen könntest, hast du sowieso nicht.
Denk lieber an deinen Auftrag. Andere haben nichts, du hast einen Auftrag. Bald würde der Krieg in die Täler kommen, und dann würde es sehr schwer werden, den Auftrag zu erfüllen. Kaufner mußte schneller sein als der Krieg. Mußte das Grab im nächsten Sommer finden, irgendwo im
Tal, in dem nichts is
t, abgesehen von einem verflucht kriegsentscheidenden Knochenhaufen. Samt Grabbeigaben, die der islamischen Welt sogar noch heiliger waren als die Knochen, sofern man Morgenthaler auch in diesem Punkt glauben wollte. Willst du es denn nicht mehr, Kaufner? Aber natürlich, du willst es, bislang hat Morgenthaler immer recht behalten mit dem, was er vorhergesagt. Durch Zweifeln allein wirst du das Zweifeln nie beseitigen. Du sollst nicht grübeln, du sollst tun.
Ja, wenn er mit Odina hätte gehen können. Wenn Odina für die richtige Seite gearbeitet hätte. Wenn Odina noch am Leben gewesen wäre. Seitdem er tot war – hingerichtet, dachte Kaufner –, war wenigstens klar, daß er für
irgend
jemanden
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