Samstags, wenn Krieg ist
mit ihr tun wollte.
Es machte ihm Angst. Sie waren gemeinsam über eine Grenze gegangen, von der er gar nicht geahnt hatte, dass sie existierte. Er fürchtete sich vor dem, was danach kam, wenn alle Hemmungen und Grenzen weg waren, wenn er wieder ganz Tier werden würde. Da war noch mehr möglich. Noch viel mehr, als er in dieser Nacht mit ihr erlebt hatte. Er fühlte, dass er die Zivilisation verließ und auf einen Abgrund zuraste.
Bald würde er nicht mehr arbeiten gehen. Keine Anzüge mehr tragen und keine Gesetze mehr kennen. Er sah sich schon rohes Fleisch mit bloßen Händen essen.
Die Angst, zu verwildern und wieder zum Urtier zu werden, trieb ihn dazu, Schluss mit ihr zu machen. Ja, dieser tollste Fick seines Lebens war gleichzeitig auch der Grund für das Ende der Beziehung.
Er hielt die Spannung, die zwischen ihnen bestand, nicht länger aus. Er konnte nicht einfach ihr Freund werden. Es war ihm unmöglich, sie zu treffen, ohne ständig daran zu denken, sie zu ficken. Er gab sich alle Mühe, sie nie wiederzusehen.
Vera Bilewski ist mit dem Fahrstuhl nur wenig schneller als Kramer zu Fuß. Sie kommt von links auf die Tür zu, er von rechts unten.
Er zieht vorsichtshalber seine Waffe. Man kann nie wissen. Vera schaut ihn missbilligend an und schüttelt den Kopf. Männer denkt sie. Typisch.
Sie will klingeln, er klopft mit der Waffe an.
Das tut er gerne, es klärt den Ernst der Lage.
Dann steckt er die Dienstpistole wieder weg. Er will keinen Krach mit Vera Bilewski.
Frau Oliverio öffnet die Tür einen Spalt. Sie ist durch eine Kette gesichert.
„Ja?“, fragt sie ängstlich.
„Kriminalpolizei. Könnten wir Ihren Sohn Gino sprechen?“
Maria kommt verunsichert die Treppe hoch.
„Was ist denn hier los?“
Frau Oliverio löst die Kette und gibt zögernd die Tür frei.
In dem Moment fällt ein Schuss. Gleichzeitig springt die Wohnzimmerscheibe entzwei.
Kramer wirft sich instinktiv auf den Boden – wofür er sich später schwarz ärgert, weil er sich blöd vorkommt. Vera stolpert an ihm vorbei ins Wohnzimmer, wo der fassungslose Gino in einem Scherbenhaufen steht. Er ist unversehrt.
„Runter!“, schreit Vera und macht mit einem Handschlag das Licht aus.
Auf allen Vieren robbt sie zu Gino und zieht ihn zu sich herunter. Sie hat mit ihrer Vermutung recht. Es bleibt nicht bei dem einen Schuss. Der nächste lässt den Fernseher in Stücke fliegen. Dann durchschlägt eine Kugel die Schlafzimmertür und holt das große Holzkreuz über dem Ehebett von der Wand. Die Kugel zerfetzt Jesus’ Bauchnabel.
„Er ist gegenüber im Parkhaus!“, brüllt Vera Bilewski Kramer zu. Er überlegt einen Moment, was er mit der Information anfangen soll. Dann schaltet er. Er kriecht rückwärts in den Hausflur zurück und rennt – die Pistole durchgeladen in der Faust – runter zur Tür. In der Zeit fallen zwei weitere Schüsse.
Als Kramer die Haustür aufreißt, glaubt er plötzlich, dass seine Aktion reichlich dämlich ist. Er hätte den Schützen möglicherweise von einem Flurfenster aus erledigen können.
Seine Karriere ist voll von verpatzen Gelegenheiten, ein Held zu werden. Er ahnt es schon. Dies hier ist wieder so ein Ding.
Er sieht zum Parkhaus hoch. Alles ruhig. Nichts Verdächtiges rührt sich. Nur der Geruch von Pulverschmauch liegt in der Luft. Schwefelqualm.
Kramer richtet den Lauf seiner Waffe auf die Fassade des Parkhauses. Er lässt sie daran entlang schweifen, als könnte er es so aus dieser Entfernung abtasten. Er hofft, noch einmal ein Mündungsfeuer zu sehen. Er wird sofort schießen. Er hat nur eine Chance, wenn überhaupt. Doch es fällt kein Schuss mehr.
Während Vera endlich im Dunkeln das Telefon ertastet und Verstärkung ruft, hält Kramer seine Dienstwaffe auf die Ausfahrt gerichtet. Er geht davon aus, dass gleich mit quietschenden Reifen ein Wagen herausdonnern wird. Den pumpt Kramer dann voll Blei. Er wird kein Risiko eingehen und erst auf die Reifen zielen. Nicht bei diesem kaltblütigen Killer.
Zum Glück holt keiner der zweiundsechzig Parker mehr in dieser Nacht sein Auto ab. Er hätte kaum eine Chance gehabt, es zu überleben.
Siggi flüchtet durch einen der drei Treppenausgänge in Richtung Einkaufszone. Er weiß nicht, ob er Gino getroffen hat oder sonst wen. Er fühlt sich wie frisch operiert. Schwach und erschöpft, aber befreit von einem gefährlichen Geschwür, das begann, den Körper zu vergiften.
40
Gino Oliverio sitzt auf dem Drehstuhl in Vera Bilewskis
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