Samstags, wenn Krieg ist
Büro. Die Haut an seinen Händen platzt auf. Sie ist ausgetrocknet, hat kleine Risse und blutige Narben. Der Juckreiz bringt Gino immer wieder dazu, die Hände an der Jeans heiß zu reiben. Seine Fingernägel sind ganz kurz gefeilt, weil er sich sonst im Schlaf blutig kratzt.
Früher schlief er mit verbundenen Händen. Seine Mutter hat alles ausprobiert: medizinische Cremes und alte Hausrezepte. Eisbäder und Olivenöl. Diäten und Trennkost. Brennnesseltee und Vitamine.
Gino glaubt in diesem Augenblick zu wissen, wo das Hautjucken herkommt. Die schorfigen Stellen an den Knöcheln blühen richtig auf. Kleine Hitzeherde auf der Haut vereinigen sich zu einem Flächenbrand. So schlimm war es noch nie.
Dort kommt meine Angst raus, denkt Gino. Wenn ich Schiss habe, dann fangen meine Pfoten an zu glühen. Es hat gar nichts mit der Ernährung zu tun. Es ist Angst. Unterdrückte Angst. Wenn ich keinen Ausweg sehe und wie die Maus in der Falle sitze. Dann passiert es.
„Ich kenn sie doch, die Schweine! Sie kommen in unsere Pizzeria und gaffen meine Schwester an! Peter Lentz. Siggi Schmidtmüller. Der Dieter Koslowski. Der Max. Nur ihr Boss kommt nie zu uns. Aber den kenn ich auch. Wolf. Wolf Kleinhaupt. Der ist ein Faschist. Aber der läuft frei rum! Den sollten Sie verhaften!“, schreit Gino.
„Erzähl doch keinen Scheiß!“, brüllt Kramer. „Du willst mir doch nicht weismachen, dass jemand dein Auto geklaut hat, darin deine Freundin umgebracht hat, dann den Wagen wieder brav vor deiner Tür abstellte und du, du hast nichts davon bemerkt und zu allem Überfluss lagst du auch allein im Bett. Keine Zeugen. Kein Alibi. Gar nichts!?“
Vera Bilewski sieht, wie eingeschüchtert Gino ist. Sie will Kramer bremsen. Außerdem passt es ihr nicht, dass er Gino duzt.
Kramer siezt Zeugen. Verdächtige duzt er, selbst wenn sie fünfzehn Jahre älter sind als er. Vielleicht merkt er es nicht einmal selbst. Aber Vera hat schon oft erlebt, dass Kramer während einer Zeugenbefragung vom Sie zum Du wechselte. Es war immer genau der Punkt, an dem für ihn jemand verdächtig wurde.
„Wir wissen doch gar nicht, ob sie in dem Auto getötet wurde“, wirft Vera beschwichtigend ein.
Gino registriert das dankbar.
Kramer wirft ihr einen fragend giftigen Blick zu. In dem Blick liegen zwei Fragen: Zu wem hältst du eigentlich, zu ihm oder zu mir? Und: Sollen wir wieder unser bewährtes Spiel spielen?
Mit ihrem Spiel, wie er es nennt, hatten sie noch die verstocktesten Typen zum Reden gebracht. Er, Kramer, machte auf ungeduldig. Laut. Gemein. Drohend. Immer ein bisschen mehr als erlaubt. Powerplay. Sie dagegen ganz die verständnisvolle Mutti. Tröstete den Verdächtigen, wenn Kramer ihn zur Sau gemacht hatte. Wer auf dem Stuhl saß, musste durch ein Wechselbad der Gefühle.
„Wenn sich herausstellt, dass das Blut im Auto von Renate Schmidtmüller stammt, dann gnade dir Gott. Dann bist du im Arsch!“, schnauzt Kramer.
Plötzlich platzt Gino los. „Ich habe nichts gemacht! Ich bin das Opfer. Kapieren Sie das nicht? Man hat versucht, mich umzubringen! Sie waren doch selbst dabei. Mein Vater liegt im Krankenhaus. Unsere Pizzeria ist Kleinholz. Meine Mutter hat einen Herzanfall. Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe! Statt mich zu beschützen, quälen Sie mich bloß.“
Kramer schüttelt den Kopf. „Du stehst unter Mordverdacht, mein Lieber.“
Gino starrt ihn an. Seine Augen füllen sich sofort mit Wasser. Gino wusste es, seit sie ihn mitgenommen haben. Aber durch Kramers Worte wird alles so schrecklich konkret.
Gino wirft Vera Bilewski einen hilfesuchenden Blick zu. Doch sie nickt nur. Ja, auch für sie ist er der Hauptverdächtige.
„Offen gestanden“, sagt Vera, „für einen jungen Mann, dessen Freundin gerade ermordet wurde, machen Sie einen wenig betroffenen Eindruck.“
Sie dehnt das „Sie“ in Richtung Kramer. Aber davon kriegt Gino nichts mit.
„Was heißt hier Freundin? Wir haben ein paarmal zusammen getanzt. Ich habe in Neapel eine Frau und zwei Söhne.“
Vera Bilewski und Kramer schauen sich verblüfft an. Schlagartig geht ihnen auf, dass sie die simplen Personendaten noch gar nicht abgefragt haben, aber schon mitten im Verhör sind.
Wer solch kleine Fehler macht, kann sich auch leicht grundlegend irren, denkt Vera Bilewski.
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Als Siggi nach Hause kommt, schlafen längst alle.
Vor der Haustür sitzt Dieter, die Knie an den Körper angezogen, den Kopf auf die Arme gestützt, wie ein verschnürtes
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