Samtpfoten im Schnee
wandte er sich ab und ging davon.
Allein gelassen presste Grace die Hand an den Mund.
Dann begann sie zu weinen.
10. Kapitel
Es war kalt.
Ihre Nasenspitze hatte sich schon vor einer ganzen Weile rot gefärbt, und auch ihre Zehen waren vor Kälte gefühllos geworden. Doch noch immer stand sie da, während die Schneeflocken immer dichter fielen.
Nach Alexanders abruptem Weggang war Grace eine Zeit lang ziellos umhergewandert, bis sie zum See gekommen war. Unschlüssig, wohin sie gehen sollte, war sie stehen geblieben.
Ich habe mich wie eine Närrin benommen, sagte sie sich.
Als sie diesen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen hatte, hätte sie die Wahrheit erkennen müssen. Alexander hatte nicht wie jemand ausgesehen, der von Schuld geplagt wurde, sondern wie ein Mann, den das mangelnde Vertrauen in ihn verletzt hatte.
Ihr erster Impuls war gewesen, ihm nachzulaufen und ihm zu versichern, dass sie ihn ebenso wenig eines solchen Verrats für fähig hielt wie sich selbst. Dass es nur die Unsicherheit ihrer chaotischen Gefühle gewesen war, die ihr Vertrauen in ihn für einen winzigen Augenblick ins Wanken gebracht hatte.
Doch dann hatte die Vernunft diesem spontanen Wunsch Einhalt geboten. Sie durfte ihm ihre Gefühle nicht offenba-ren. Nicht, wenn sie es vermeiden wollte, zum Objekt seines Mitleids zu werden. Vielleicht war es das Beste, dass ihr bislang unbeschwerter Umgang miteinander getrübt worden war. Denn allein schon der Gedanke daran, dass er Chalfried verlassen würde, genügte, dass ihr das Herz schwer wurde.
Sie müsste schon ein unbelehrbarer Dummkopf sein, wenn sie es zuließ, sich von seinem Zauber noch stärker gefangen nehmen zu lassen.
Sich schrecklich niedergeschlagen fühlend, starrte Grace auf die Kette, die sie noch immer in Händen hielt. Wenn er doch nur nicht der begehrteste Junggeselle Englands wäre, dachte sie traurig. Wenn ich doch nicht eine so langweilige Landpomeranze ohne jegliche Zukunftsaussichten wäre.
Wenn ich doch nur...
Grace schreckte aus ihren nutzlosen Grübeleien auf, als sie plötzlich eine Katze jämmerlich schreien hörte.
Mit einem Stirnrunzeln wandte sie sich um. Nur wenige Schritte von ihr entfernt stand Boswan. Grace spürte, dass ihr vor Schreck der Atem stockte.
»Ihr! Was wollt Ihr hier?«
Er enthüllte seine schwarz verfärbten Zähne, während er sich an ihrem Erschrecken weidete. »Ich habe Euch gewarnt, dass ich zurückkommen würde. Ich hab Euch sogar ein Geschenk mitgebracht.«
Eine unkontrollierbare Angst schlich Grace den Rücken hinunter, als Boswan langsam den Sack hochhob, den er in der Hand hielt. Sie wollte nicht wissen, was er mitgebracht hatte. Sie wollte nicht einmal versuchen, es sich vorzustellen. Dann war wieder das gedämpfte Schreien einer Katze zu hören.
»Byron!«, rief Grace und wollte den Sack packen.
Boswan schlüpfte gewandt aus ihrer Reichweite und grinste höhnisch. »Ich hab mehr als einmal damit gedroht, Eure verdammte Katze zu ersäufen. Also werde ich es auch tun.«
Ihr Atem stockte. Großer Gott, der Mann war verrückt.
»Nein!«
Er lachte über ihren offensichtlichen Abscheu. »Seid froh, dass nicht Ihr in dem Sack steckt.«
Wie gelähmt vor Entsetzen sah Grace, dass Boswan sich an ihr vorbeidrängte und den Sack mit aller Kraft bis in die Mitte des Sees schleuderte. Graces Schrei hallte zwischen den Bäumen wider, als sie auf das Wasser zutaumelte und wusste, dass das geschundene Tier binnen Augenblicken ertrinken würde.
»Nein ... Byron!«
Ohne auf Boswans heimtückisches Lachen zu achten, machte sich Grace bereit, trotz der schneidenden Kälte des Wassers in den See zu waten. Doch dann, wie aus dem Nichts, sprang Alexander vor ihr ins Wasser.
Vor Schreck wie erstarrt sah Grace, wie er untertauchte.
»Lieber Gott, bitte, bitte ...«, betete sie im Stillen. Sie könnte es nicht ertragen, wenn Alexander etwas zustieß. Sie würde eher ihr Leben hergeben, als den Mann zu verlieren, den sie liebte.
Ohne einen Blick für den heimtückischen Boswan, der feige die Flucht durch das Unterholz angetreten hatte, fuhr Grace fort zu beten. Ein Jahrhundert schien vorbeizugehen, bis Alexander mit einem lauten Platschen wieder auftauchte.
Mit beharrlicher Entschlossenheit kämpfte er sich ans Ufer zurück. Grace stieß einen erleichterten Seufzer aus, als sie ihn am Arm packte, um ihm zu helfen.
»Hier.« Obwohl er am ganzen Leib zitterte, gelang es Alexander, den Sack aufzunesteln. Er zog das verstörte Kätzchen
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