Samuel Carver 02 - Survivor
weiter.
Das Pflaster war eiskalt, und die Sohlen ihrer Nylons waren nach wenigen Metern durchgescheuert, aber wenigstens konnte sie jetzt besser rennen. Die nächste Straße war die Rue du Prince. Mehrere Männer in engen Jeans und Leder standen vor dem Eingang vom Le Prétexte, der führenden Schwulenbar der Stadt.
»Helfen Sie mir!«, schrie Aliks und zeigte auf ihre Verfolger, die jetzt auch rannten.
Die Gruppe teilte sich, um Aliks durchzulassen, aber einer, der Rausschmeißer der Bar, trat den beiden Männern in den Weg. Er war ein Muskelprotz, ganz in Schwarz gekleidet. Sein Kopf war kahl geschoren, dafür verbarg sich die untere Gesichtshälfte hinter einem dichten Vollbart.
»He!«, rief er. »Was habt ihr –«
Ehe er den Satz zu Ende brachte, schickte ihn einer der Verfolger mit einem Schlag zu Boden. Die anderen stoben auseinander und scharten sich, sobald die beiden Männer weg waren, um den bewusstlosen Rausschmeißer.
Aliks war auf sich allein gestellt. Sie war nicht in der Verfassung für einen langen Sprint. Sie rauchte zu viel und war untrainiert. Doch es war nicht mehr weit bis zum Ende der Straße, die dort auf die Rue du Rhône traf, eine der belebtesten Straßen der Stadt. Dort gab es ein halbes Dutzend Bus- und Bahnlinien, und an den Haltestellen würden viele Leute stehen. Wenn sie es bis dahin schaffte, hätte sie eine Chance.
Sie hetzte quer über die Kreuzung zur anderen Straßenecke. Hinter ihr fuhr ein Auto vorbei und zwang ihre Verfolger, kurz anzuhalten, was ihr ein paar kostbare Sekunden verschaffte. Sie blickte die Straße hinauf und hinunter nach einem Bus oder Taxi. Plötzlich hatte sie Glück. Fünfzig Meter entfernt fuhr ein Taxi vom Rinnstein weg auf die linke Spur der breiten Einbahnstraße. Der Fahrer schaltete das Leuchtschild auf dem Dach ein, und Aliks winkte hektisch mit den Armen.
Das Taxi kam zwar auf sie zu, der Fahrer schien sie aber nicht zu bemerken. Hinter ihr überquerten die beiden Männer die Straße.
»Bitte …«, flehte Aliks, und dann, als wäre ihr Gebet erhört worden, sah sie das Taxi blinken und zwischen den anderen Autos zu ihr herüberschwenken.
Das erkannte auch einer ihrer Verfolger. Er gab seinem Partner ein Zeichen, worauf sie noch schneller rannten.
Aliks wartete nicht, bis das Taxi den Bürgersteig erreicht hatte. Sie sprang auf die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten, und zwang den Taxifahrer zu einer Vollbremsung. Er protestierte mit der Lichthupe, sodass sie die Augen abschirmen musste, während sie um die Motorhaube herum auf die Beifahrerseite lief. Sie riss die Tür auf und warf sich auf den Rücksitz.
»Gare de Cornavin, so schnell Sie können«, stieß sie atemlos und noch immer geblendet hervor.
Erst als sie schwer atmend und mit zugeschnürter Kehle in den Sitz zurücksank, bemerkte sie, dass sie nicht mit dem Fahrer allein war.
Die Frau aus dem Bierkeller saß neben ihr mit übergeschlagenen Beinen da. Die Arme ruhten im Schoß, das rechte Handgelenk auf dem linken Unterarm, um die Pistole zu stützen, die sie auf Aliks gerichtet hatte.
»Guten Abend, meine Liebe«, sagte Olga Schukowskaja.
Sie war eine der mächtigsten Frauen in Russland, stellvertretende Direktorin der FSB, des Geheimdienstnachfolgers des sowjetischen KGB. Doch sie redete im Ton liebevoller Vertrautheit, der eine lange Freundschaft oder gar eine Familienbeziehung nahelegte.
In der Tat war sie für Aliks so etwas wie eine Mutter gewesen. Die Frau von Juri Schukowski hatte Aliks vor gut zehn Jahren bei einem Jugendtreffen der kommunistischen Partei in Moskau entdeckt – einen ungelenken Teenager aus der Provinz, der sich hinter dicken Brillengläsern verschanzte. Doch die erfahrene Frau erkannte damals mit geübtem Auge die natürliche Erotik, der sich das Mädchen nicht im Geringsten bewusst war. Und wie jahrelanges Training einen unerfahrenen Rekruten in einen Elitesoldaten verwandeln kann, so wurde die linkische, ungepflegte Aleksandra Petrowa durch Diät, Sport, Chirurgie und Bildung verwandelt.
Schukowskaja hatte mit angesehen, wie Aliks Generäle, Politiker, Industrielle bezauberte. Sie hatte zufrieden zugesehen, wie ihr eigener Mann – damals genau wie sie KGB-Offizier, später Industrieller und Oligarch – der Anziehungskraft der jungen Frau verfiel, und sie hatte diese Beziehung wachsen lassen, solange sie ihren eigenen Zwecken diente.
Aliks war fantastisch gewesen. Aber jetzt? Jetzt war sie nur noch ein müdes, verwahrlostes Ding in
Weitere Kostenlose Bücher