Samuel Carver 02 - Survivor
zu konzentrieren, was in ihm selbst vorging.
»Wo ist Aliks?«, fragte er.
Schwester Juneau stellte das Tablett quer über sein Bett und zuckte die Achseln.
»Ich weiß es nicht, Samuel.«
»Wo ist sie hingegangen?«
»Ich weiß es nicht, Samuel«, wiederholte Schwester Juneau mit ein wenig Nachdruck, während sie ihm einen kleinen Pappbecher hinhielt, in dem drei leuchtend bunte Kapseln lagen. »Sie ist nicht hier.«
Sie dachte sich nichts dabei, als sie das sagte. Schwester Juneau fand es völlig in Ordnung, dass Aliks sich mal eine Pause gönnte. Das arme Ding hatte sie verdient, nach all der Zeit, die sie schon in diesem Zimmer verbracht hatte.
Doch ihre Antwort traf Samuel Carver wie ein Stromschlag aus dem Gürtel, mit dem er gefoltert worden war. Er schnappte nach Luft. Er riss entsetzt die Augen auf. Er griff in seine Laken. Dann warf er die Arme hoch und schleuderte Bettzeug und Tablett von sich, sodass Teller, Glas und Besteck scheppernd auf den Boden fielen.
Schwester Juneau war an Carvers Qualen gewöhnt, an seine kindliche Angst, verlassen zu werden. Doch dieses Mal war seine Reaktion auf Aliks’ Abwesenheit sehr viel intensiver.
Als sie erschrocken aufschrie, kam Carver aus dem Bett, und das mit einer Energie, die sie noch nie bei ihm erlebt hatte, mit funkelnden Augen, das Gesicht verzerrt von nackter Angst. Sie wich zurück, doch er kam hinterher. Er schloss die Fäuste um ihre Unterarme, packte so fest zu, dass sie vor Schmerz wimmerte, dann schob er sein Gesicht ganz nah vor ihres und zischte: »Wo ist sie?«
Seine Stimme hatte alle kindliche Unschuld verloren. Bedrohlicher, echter Zorn lag darin, der jeden Moment in Gewalt umschlagen konnte.
Schwester Juneau schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte sie flehend. »Ich schwöre, dass ich die Wahrheit sage. Ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist. Aber regen Sie sich nicht auf. Sie wissen doch, dass sie immer wieder herkommt. Immer.«
Carver stieß sie von sich weg quer durchs Zimmer. Sie prallte gegen den Türrahmen, sodass sie aufschrie.
»Aliks!«, rief Carver neben seinem Bett stehend. »A-l-i-i-ik-s!!«
Er taumelte zur Tür, stolperte beinahe über die benommene Schwester und rannte auf den Flur hinaus.
Heftige Stiche schossen durch Carvers Schädel. Sein Herz klopfte wild. Bilder aus seinen Träumen blitzten vor ihm auf. Doch jetzt, in seinem realen Albtraum, war alles anders. Er wusste, wo und wann er in dieser Wüste gekämpft hatte: bei einem Einsatz tief im Irak während der Desert-Storm-Offensive 1991. Er wusste, dass er und seine Männer die Kabel gesprengt hatten und sicher zur Basis zurückgekehrt waren. Und die Frau in seinem Traum war Aliks. Sie war da gewesen, in diesem Chalet außerhalb von Gstaad. Aber was war sonst noch passiert?
Die Erinnerung wollte nicht kommen. Nur ein neues Stechen hinter den Augen.
In T-Shirt und Pyjamahose lief er den Flur entlang, stieß gegen einen Medikamentenwagen, taumelte um die Schwester herum, die ihn von einem Zimmer zum nächsten rollte, stieß einen Patienten beiseite, um zu der Treppe zu gelangen, die zum Ausgang und zur Welt da draußen führte. Die Traumbilder waren vergangen, und er begriff, dass er seine Umgebung mit einer neuen Klarheit wahrnahm, die aus einem Verstehen erwuchs. Es war, als hätte eine dicke Glaswand zwischen ihm und der Welt gestanden – eine Glaswand, die plötzlich zersprungen war. Er verstand seine Umgebung, erkannte Zweck und Bedeutung von Dingen und Menschen, die monatelang nichtssagend für ihn gewesen waren. Vor allem aber war ihm klar, wer und was Samuel Carver eigentlich war.
Hinter sich hörte er eilige Schritte über den Gang kommen. Er drehte sich um und sah zwei Pfleger, die nicht nur wegen ihres fürsorglichen Wesens, sondern auch wegen ihrer physischen Kräfte eingestellt worden waren, auf ihn zuhasten. Er versuchte, sie abzuwehren, doch sie ignorierten seine wilden Fausthiebe und nahmen ihn zwischen sich, schlugen ihn nieder und drückten ihn auf den Boden.
Ein paar Sekunden später kniete Dr. Geisel mit einer Kanüle neben ihm.
»Das ist nur zu Ihrem Besten«, sagte er und schob Carver die Nadelspitze in den Oberarm.
Bevor das Betäubungsmittel wirkte, blickte Carver dem Arzt in die Augen.
»Ich weiß«, zischte er, »ich weiß.«
Dann setzte die Wirkung ein, und das Vergessen überkam ihn.
Eine Minute später, als die Pfleger den bewusstlosen Carver auf sein Bett legten, wandte sich Schwester Juneau an Dr. Geisel. Sie
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