Samuel Carver 02 - Survivor
rieb sich den Hinterkopf. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen, weil sie geweint hatte.
»Geht es wieder?«, fragte er.
»Ich glaube schon«, sagte sie und zuckte zusammen. »Es ist Carver, um den ich mir Sorgen mache. Er war so entsetzt, dass er allein war. In einem so schlechten Zustand habe ich ihn noch nie erlebt.«
»Meinen Sie?«, erwiderte Geisel. »Ich glaube vielmehr, das Trauma könnte eine Katharsis ausgelöst haben. Der neue Schock hat den alten aufgehoben. Jetzt geht es ihm endlich besser.«
24
Der Umkleideraum des Bierkellers stank nach kaltem Rauch, Haarspray und billigem Parfüm. Während Carver über den Flur des Sanatoriums taumelte, drückte Aliks gerade ihre Zigarette aus und wappnete sich für die Arbeit. Sie zog sich die weißen Strümpfe bis über die Knie. Alle Kellnerinnen trugen ihr nuttiges Heidi-Kostüm: einen kurzen roten Rock mit weißem Rüschensaum, ein schwarzes geschnürtes Oberteil und eine eng sitzende weiße Bluse mit großem Ausschnitt. Aliks zog die Schnüre fest zusammen und band unter der Brust eine Schleife. Dann setzte sie sich die Perücke auf, eine hellblonde mit Zöpfchen und roten Schleifen. Sie holte tief Luft und betrat den Schankraum.
Aliks ließ den Blick schweifen, grüßte die Gäste mit einem einstudierten Lächeln oder warf ihnen eine Kusshand zu, aber in Wirklichkeit musterte sie jeden Einzelnen, ob er mehr als durchschnittlich betrunken oder unangenehm war. Weit hinten sah sie eine Frau an einem Zweiertisch sitzen, neben dem Tisch mit dem Banker und seinen Kunden.
Die Frau war klein und drahtig. Ihr Hosenanzug war schlicht, aber perfekt geschnitten und so schwarz wie die Haare, die ihr Gesicht mit einer strengen Bubikopffrisur umrahmten. Die schummrige Beleuchtung des Bierkellers machte aus dem lebhaften Rot ihrer dick geschminkten Lippen ein sattes Aubergine. Im ersten Moment, als sie Aliks ansah, blieb ihr Gesicht vollkommen ausdruckslos, bis sich ihre Blicke trafen. Sofort lächelte sie Aliks verächtlich an und warf ihr in einer spöttischen Nachahmung ihrer Gesten einen Kuss zu.
Aliks blieb abrupt stehen. Es schien, als könnte sie die Information, die ihr die Augen gaben, nicht verarbeiten. Dann schnappte sie erschrocken nach Luft, blickte sich hastig um und machte auf dem Absatz kehrt, zurück in den Umkleideraum.
Während Aliks floh, fing die Frau in Schwarz den Blick der beiden Männer auf, die an einem Tisch in der Nähe saßen, und deutete mit dem Kopf in Richtung der Hinterzimmer. Sie standen auf und gingen auf die Tür zu, durch die Aliks soeben verschwunden war. Die Frau ließ dreißig Franken auf dem Tisch liegen und schlenderte zum Vorderausgang.
Aliks rannte durch den Umkleideraum, riss im Vorbeilaufen Handtasche und Mantel an sich und versuchte, ihn anzuziehen, während sie durch die hintere Tür und einen kurzen Gang auf den Personalausgang zuhastete. Bis sie auf der Straße ankam, hatte sie den Mantel eng um sich geschlungen. Sie zog Kopf und Schultern ein gegen den scharfen Winterwind, genau wie die übrigen Passanten auf dem Bürgersteig, schlug den Kragen hoch und hielt ihn mit einer Hand am Hals zusammen.
Jede Faser ihres Körpers brannte darauf, loszurennen, aber sie zwang sich, in normalem Tempo zu gehen. Sie konnte nicht darauf hoffen, dass sie ihre Verfolger bei einem Wettrennen besiegte. Ihre einzige Chance bestand darin, nicht aufzufallen.
Sie war zwanzig Meter weit gekommen, als ihr bewusst wurde, dass sie noch die Perücke trug. Das war nicht weiter schlimm. Die Zöpfchen wurden vom Kragen verdeckt, und in dem schwefelgelben Schein der Straßenlampen sah ein Blondschopf wie der andere aus. Doch Aliks war zu müde, zu angespannt, um auf ihrer Flucht kühle Überlegungen anzustellen. Sie geriet in Panik, riss sich die Perücke vom Kopf und warf sie in den nächsten Papierkorb. Dann zog sie den Nylonstrumpf herunter, der ihre Haare zusammenhielt, und ließ ihn aufs Pflaster fallen.
Die rasche Bewegung verriet sie. Im selben Moment hörte sie energische Schritte hinter sich. Sie drehte den Kopf und sah zwei Männer hinter sich herkommen. Einer sprach in ein Mikro am Handgelenk. Aliks fing panisch an zu rennen, knickte aber mit den hohen Absätzen um, sodass sie einen Moment anhielt, um die Schuhe von den Füßen zu streifen. Das brachte ihre Verfolger unerbittlich näher, die sich jedoch nicht beeilten, als wüssten sie genau, dass sie sich nicht besonders anzustrengen brauchten. Dann rannte sie auf Strümpfen
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