Samuel Carver 02 - Survivor
sich langsam ein Lächeln auf Schukowskajas Gesicht aus. Sie hatte soeben eine Möglichkeit erkannt, wie die Operation durchzuführen war: Sie konnte das Dokument beschaffen, die staatlichen Gelder sparen, im Falle eines Fehlschlags alles bestreiten und den aus der Mode gekommenen Dinosaurier, der zwischen ihr und dem obersten Posten stand, in größtmögliche Verlegenheit bringen.
»Lautet Ihre offizielle Anweisung, in dieser Sache keine Behördenmittel einzusetzen?«, fragte sie pflichtbewusst.
»Selbstverständlich«, antwortete der Direktor. »Und was Petrowa angeht, muss ich sagen, ich wundere mich doch sehr, dass Sie noch bereit sind, sich irgendwie mit ihr abzugeben, wenn man ihre Rolle beim Tod Ihres Gatten bedenkt. Wäre ich an Ihrer Stelle, es hätte mir großes Vergnügen bereitet, sie umzubringen.«
»Vielleicht werde ich das zu gegebener Zeit tun. Vorerst aber bin ich froh, dass ich ihre Talente für unsere Zwecke nutzen kann.«
Zum ersten Mal zeugte der Ton ihres Vorgesetzten von echter Bewunderung. »Ich muss sagen, meine Liebe, das ist von bewundernswerter Kaltblütigkeit, selbst für Ihre Maßstäbe.«
KARFREITAG
63
Es war ein wunderschöner Frühlingsmorgen in der Provence. Carver passte den altersschwachen Lieferwagen des Bäckers einen Kilometer vom Haus entfernt ab, hielt den Daumen hoch und ließ sich mitnehmen. Jetzt rumpelte das Gefährt klappernd auf das Tor zu. Ringo tauchte in der Einfahrt auf und bedeutete ihnen, anzuhalten. Aus der Nähe betrachtet, sah man die Haarbüschel, die vorn und hinten am Halsausschnitt des T-Shirts hervorlugten, wodurch er noch abstoßender wirkte. Er war mit einer Repetierschrotflinte bewaffnet, und nach der Art zu schließen, wie er sie hielt – schräg vor dem Körper, den Schaft in der Armbeuge, die rechte Hand am Abzug, die Mündung nach unten gerichtet –, hatte ihm jemand beigebracht, wie man sie richtig handhabte.
Ringo blickte den Bäcker drohend an und ignorierte das höfliche Bonjour, m’sieur, brummte nicht einmal, zum Zeichen, dass er ihn wiedererkannte. Er zeigte nur auf die Schlüssel im Zündschloss und schnippte mit den Fingern, damit sie ihm ausgehändigt würden.
Sobald der Lieferwagen nicht mehr gestartet werden konnte, ging Ringo zum Heck und öffnete die Tür. Mit unendlichem Misstrauen inspizierte er die Bleche mit Baguettes, runden Brotlaiben, Kuchen, Törtchen und Croissants, die auf der Ladefläche gestapelt waren, anscheinend immun gegen die Verlockung, die von den knusprigen braunen Krusten, den saftigen Füllungen und den appetitlichen Gerüchen ausging. Für ihn war jedes pain au chocolat eine potenzielle Sprengfalle, jede Quiche ein Handgranatenversteck. Er spähte in die Plastiktüten, die mit Fleisch, Gemüse und Alkohol gefüllt waren. Schließlich hatte er sich davon überzeugt, dass von dieser Warenladung keine Gefahr ausging, außer für die Arterien und Gehirnzellen der Leute, die sie konsumieren würden.
Der stiernackige Gangster schloss die Hecktür und nahm den Rundgang um den Wagen wieder auf. An der Beifahrertür blieb er stehen. Er gab Zeichen, das Fenster herunterzukurbeln. Als das geschehen war, schob er den Gewehrlauf hinein, neigte den Kopf und starrte Carver direkt ins Gesicht.
Ringös zusammengewachsene Augenbrauen wirkten noch finsterer, als er überlegte, welche Bedrohung diese unbekannte Person in der Kluft eines Anstreichers darstellen könnte. Er trat einen Schritt zurück. Dabei achtete er darauf, dass er jederzeit schussbereit war, und winkte Carver mit dem Gewehrlauf aus dem Wagen.
Carver stieg aus in den warmen, duftgeschwängerten Sonnenschein und hob dabei die Hände hoch, die natürliche Reaktion eines unschuldigen, mit Gewalt unvertrauten Bürgers, der mit einem Bewaffneten konfrontiert ist. Der Georgier zeigte mit dem Lauf auf die schäbige graugrüne Segeltuchtasche, die vor dem Beifahrersitz stand. Er wollte, dass Carver sie herausnahm. Der tat, was von ihm verlangt wurde, und zwar mit langsamen, gezielten Bewegungen, die jederzeit klarmachten, dass er nichts Ungehöriges vorhatte.
Sobald er sich mit der Tasche in der Hand wieder aufgerichtet hatte, öffnete er sie. Darin waren zwei Farbdosen, eine nagelneue, noch ungeöffnete mit weißem Lack, eine leere, in der ein paar alte Lappen steckten. Neben den Dosen lagen drei Pinsel verschiedener Breite, eine große Flasche Pinselreiniger, eine Tüte Kartoffelchips, eine Glasflasche mit einem Orangensaftgetränk und ein kleines
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