Samuel Carver 04 - Collateral
eines Sergeants am Ärmel, der die Augen hinter einer schillernd gelben Sonnenbrille verbarg, stieg aus der Fahrerkabine. Er warf die Tür hinter sich zu, reckte sein Sturmgewehr einhändig in die Luft und gab einen Feuerstoß ab. »Los! Bewegung! Macht Platz!«, brüllte er.
Vor dem Lkw war die Straße von einer Menschenmenge blockiert, die sich über die Hügel fortsetzte, so weit das Auge reichte. Es waren mehr als dreißigtausend auf diesem öden Brachland, wo früher einmal Getreide wuchs und Vieh auf üppigen Weiden fraß. Camps wie dieses waren im ganzen Land wie Pilze aus dem Boden geschossen. Sie waren überfüllt mit Familien, die man aus ihren Dörfern vertrieben, deren Farmen oder Stadthäuser man beschlagnahmt hatte, weil sie es genau wie die Bewohner der Severn Road gewagt hatten, gegen Henderson Gushungo zu stimmen. Offiziell wurde der Abtransport der Leute, die in die Hunderttausende gingen, als Umsiedlung bezeichnet. In Wirklichkeit war das eine politische Säuberung, bei der Gushungo Mitglieder seines eigenen Stammes genauso terrorisierte wie die anderer gesellschaftlicher und ethnischer Gruppen. Nach der Fahrt auf den Lastwagen wurden die Menschen ohne Nahrung und Wasser oder Unterkunft einfach ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen. Dass sie auf Land hausten, das anderen Malembern gehörte, kümmerte Gushungo nicht im Mindesten.
Ein zweigeschossiges Haus aus Porenbetonsteinen, das ein rostiges Blechdach hatte, stand wie eine Insel in dem Menschenmeer gut fünfzig Meter entfernt. Ringsherum stiegen dünne Rauchfäden von Kochfeuern auf, Frauen saßen vor Hütten und Zelten, die notdürftig aus Lumpen, Holz und Blechen errichtet waren. Hier und dort spielten kleine Kinder mit dünnen Beinen und geschwollenen Bäuchen, doch sie hatten keine Kraft, um herumzutollen, kein Spielzeug für ausgedachte Teekränzchen oder Schlachten und kein Leuchten in den runden, fragenden Augen.
Vor dem Lkw setzte sich die Menge langsam in Bewegung, und ein paar Meter Platz wurden geschaffen. Die Wagen fuhren ein Stück weiter, bis sie erneut, gut dreißig Meter vom Haus entfernt, in der Menschenmenge halten mussten. Der Mann mit dem Gewehr, der neben dem Lkw hergelaufen war und Leute mit Tritten zur Seite befördert hatte, schoss in den Himmel, und wieder bildete sich ein Stück Weg durch die Menge, kürzer und schmaler diesmal. Als auch diese Methode an ihre Grenze stieß, schickte sich der Mann ins Unvermeidliche. Er drehte sich zu den folgenden Wagen um und rief: »Genug, wir machen hier Halt! Ausladen!«
Zehn oder mehr Soldaten sprangen aus den Fahrerkabinen. Sie gingen nach hinten und öffneten die Ladeklappen, schrien »Raus!« und stießen die Leute mit dem Gewehrlauf, schlugen sie mit dem Kolben, wenn sie zu protestieren wagten oder wenn sie auch nur fragten, wo sie sich befanden und was nun werden sollte.
Mary hatte ihre Lektion schon am Vortag gelernt. Sie sagte nichts. Sie hielt bloß ihren Säugling fest und hoffte, er werde still bleiben. Es machte keinen Unterschied aus. Ein Soldat schlug sie mit dem Gewehr ins Gesicht, nur weil ihm danach war. Er lachte und machte seine Kameraden auf sie aufmerksam, als sie am Boden lag, im Arm das Baby, und sich ins Gesicht griff, wo ihr das Blut durch die Finger rann.
»Lassen Sie das!«
Der Zuruf kam vom Haus. Ein Junge von ungefähr achtzehn Jahren und ein Mädchen im selben Alter – Geschwister dem Aussehen nach – standen in der offenen Tür. Sie wirkten gesünder und besser ernährt als die Menschen ringsherum, und sie strahlten das Selbstbewusstsein von jungen Menschen aus, die in dem Glauben aufgewachsen sind, dass alles möglich ist, und die noch die Grenzen und Gefahren dieses Irrtums entdecken müssen.
Es war der Junge, der gerufen hatte. Er strebte zwischen den Leuten hindurch auf den Lkw zu, mit dem entschlossenen Schritt eines Kriegerfürsten. Er ignorierte die Soldaten und ging geradewegs zu Mary Utseya, hockte sich neben sie und legte ihr tröstend den Arm um die Schultern.
Er blickte zu dem Soldaten hoch, der sie geschlagen hatte. »Schämen Sie sich«, sagte er verächtlich. »Ein wirklicher Mann hat es nicht nötig, eine wehrlose Frau zu schlagen.«
Der Soldat machte einen Schritt auf ihn zu, und der Junge sprang auf, um sich ihm entgegenzustellen. So standen sie voreinander und starrten sich wütend an.
»Diese Frau braucht Hilfe, ihr Kind auch«, sagte der Junge. Er drehte den Kopf nach seiner Schwester und rief: »Farayi, komm und
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