Samuel Carver 04 - Collateral
Boat Service kannte er einen Offizier, der kaum älter war als er und schon mit Anfang dreißig grau geworden war. Gewissermaßen zum Ausgleich war sein Gesicht ungewöhnlich jugendlich und faltenlos geblieben. Diese widersprechenden Merkmale machten es schwer, sein Alter richtig zu schätzen. Carver zielte auf eine ähnliche Wirkung ab.
Alles, was er nun noch brauchte, waren einige Pässe, Führerscheine, Kreditkarten und SIM-Karten. Dann war er reisefertig.
Diesmal landete er in Gatwick, mietete einen Wagen und fuhr die acht Kilometer nach Crawley. In einem Industriegebiet unweit des Bahnhofs fand er einen Fachhändler namens Vanpoulles und erklärte einem Verkäufer, was er benötigte. Der freute sich, Carvers Liste durchzugehen und Empfehlungen zu geben, für welche Variante er sich entscheiden sollte. Aber weder ein Messgewand noch eine Patene seien notwendig, klärte er ihn auf.
Carver erwähnte auch, dass er nach einem sehr speziellen Behältnis suche, um die Gegenstände zu transportieren, vorzugsweise aus zweiter Hand und gut abgenutzt. Der Verkäufer beriet sich mit einem Kollegen und nannte ihm dann einen alten Kunden, der sich kürzlich zur Ruhe gesetzt habe und ihm das Gesuchte vielleicht zur Verfügung stellen könne. Er wohne in Kent, nicht weit von Tunbridge Wells.
Die Fahrt hin und zurück dauerte fast drei Stunden, hatte sich aber gelohnt. Während Carver einmal dort war, machte er sich zunutze, dass in Tunbridge Wells hauptsächlich ältere, konservative, vornehme Leute lebten. Er ging in einen Wohltätigkeitsladen und fand einen leichten dunkelgrauen Anzug, der maßgeschneidert war, aber an Ellbogen, Knien und Rücken diese glänzenden Stellen hatte, die vom langjährigen Tragen kommen. Er hatte einem Mann gehört, der mehr aß und weniger Sport trieb als Carver, doch ein halbwegs guter Hongkonger Schneider würde den Anzug leicht ändern können.
Am späten Nachmittag schlug sich Carver unterwegs nach Campden Hall durch den Feierabendverkehr auf der M25. Das Kriechtempo auf der östlichen Umgehung Londons war selbst für einen Heiligen eine Geduldsprobe. Aber alles in allem fand Carver, dass er den Tag gut genutzt hatte.
48
Faith Gushungo stürmte in die Küche ihres Hongkonger Hauses und schrie die zwei Frauen an, die an dem Tisch in der Mitte saßen. »Mein Schlafzimmer ist ein Saustall! Es sollte bei meiner Ankunft makellos sauber sein, das hatte ich angeordnet!« Sie zeigte mit einem beringten Finger auf ihre Dienstmädchen. »Aber die Betten sind ungemacht! Überall liegt Staub! Das Bad ist die reinste Gosse!«
Sie beugte sich nach vorn und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. Mit ihren rot besohlten Louboutin-Pumps war sie über eins achtzig groß, im Vergleich mit den zierlichen Chinesinnen in ihrer hellgrauen Dienstkleidung und den weißen Schürzen eine Riesin.
»Aber ... aber ... ich habe es sauber gemacht, Missy«, brachte die jüngere vor lauter Angst und Demütigung schluchzend hervor.
Faith Gushungo richtete die ganze Wucht ihres Missfallens auf die Sprecherin. Sie senkte die Stimme, klang aber umso drohender, als sie erwiderte: »Ach wirklich? Du meinst, du hast das Zimmer geputzt? Na, dann hör mir mal zu, du kleiner gelber Affe. Du bist es vielleicht gewohnt, in Dreck und Durcheinander zu leben, aber ich nicht. Ich stelle die höchsten Ansprüche und verlange von meinem Personal bedingungslosen Gehorsam. Wenn du also deine Stellung nicht verlieren willst, gehst du jetzt in das Zimmer und wirst jeden Quadratzentimeter spiegelblank putzen, wie ich es erwarten kann. Und du wirst nicht eher nach Hause gehen, als bis ich mit dem Ergebnis zufrieden bin. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Missy, ja. Ich hole nur schnell, was ich brauche. Ich fange sofort an.«
»Das solltest du auch«, fauchte die First Lady Malembas und trat von dem Tisch weg. »Sofort und nicht einen Augenblick später.« Dann drehte sie sich auf ihren Stilettos um und stolzierte hinaus. Draußen hörte man ihre Absätze über den Marmorboden klappern.
Tina Wong wartete, bis Faith Gushungo außer Hörweite war, dann legte sie der weinenden Angestellten eine tröstende Hand auf den Rücken. »Es tut mir leid, kleine Schwester«, sagte sie auf Kantonesisch. »Es ist meine Schuld, dass du diese unverdiente Demütigung ertragen musstest.«
Die Hausangestellte hörte so schnell zu weinen auf, wie sie angefangen hatte. »Mach dir keine Gedanken, große Schwester. Die Hexe kann mir nichts anhaben. Es
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