Samuel Carver 04 - Collateral
ist schon schlimm, das Gesicht zu verlieren, wenn man von einem zivilisierten Menschen angeschrien wird, aber noch viel schlimmer ist es bei einem Barbaren ... und am allerschlimmsten bei einer viehischen Person wie der!« Sie schnaubte angewidert und nahm ihr Putzzeug. »Ich werde mal sehen, ob ich den Fäulnisgestank aus ihrem Zimmer vertreiben kann.«
»Unmöglich!«, erwiderte Wong und lächelte die jüngere aufmunternd an, als sie sich auf den Weg machte.
Sowie sie allein war, griff sie in den Plastikeimer, in dem sie ihre Reinigungsmittel, die Politur und Wischlappen transportierte, und nahm eine zusammengerollte Plastikfolie heraus. Sie zog einen Schutzfilm davon ab und breitete die Plastikfolie auf dem Tisch aus, genau da, wo Faith Gushungo ihre rechte Hand aufgestützt hatte. Dann zog sie die Folie vom Tisch und bedeckte sie wieder mit dem Schutzfilm.
Nach der Arbeit nahm Wong den Zug von Tai Po nach Monkok, dem Zentrum von Kowloon, wo mehr Menschen auf einem Fleck zusammenlebten als an jedem anderen Ort der Erde. Sie stieg in den vierten Stock eines heruntergekommenen Wohnhauses und klopfte an eine rote Tür, von der die Farbe abblätterte. Ihr öffnete ein dünner Brillenträger in einem verschlissenen Laborkittel. Er grinste, als er sie sah, und winkte seine ehemalige Kollegin in die kleine Wohnung.
Die makellos instand gehaltene Ausstattung war viel, viel mehr Wert als die schmutzige Immobilie, in der sie stand. Die Computer hatten Zugriff auf alle wichtigen Datenbestände der Polizei und waren mit Scannern, Laserdruckern, Spektrometern, Zentrifugen verbunden. Kurz gesagt, die Wohnung war ein kriminaltechnisches Labor.
Der Mann nahm von Wong die Plastikfolie entgegen und legte sie auf einen Scanner. Nach ein paar Sekunden erschien ein überlebensgroßes Bild des Handabdrucks auf einem Zweiunddreißig-Zoll-Monitor. Der Mann musterte es kurz, dann drehte er sich breit lächelnd zu Wong um.
»Perfekt«, sagte er. »Du bekommst genau das, was du brauchst.«
49
»Noch mal!« Carvers Befehl hallte durch die Scheune.
Von oben kam Zalika Strattens müde, frustrierte Stimme. »Oh Mann, was war jetzt wieder?«
»Sie trampeln herum wie eine Herde Elefanten. Falls es Ihnen noch nicht klar ist: Es kommt darauf an, dass niemand Sie hören kann.«
Zalikas Gesicht erschien über dem Geländer des improvisierten Bretterbodens, welcher das Schlafzimmer der Gushungos in Hongkong darstellte.
»Soll das heißen, ich bin fett?«
»Überhaupt nicht«, antwortete Carver ausdruckslos. »Nur ungeschickt und trampelig.«
»Oh!« Vor Empörung kletterte ihre Stimme eine Oktave höher. »Dafür werde ich Sie umbringen, Samuel Carver!«
»Noch nicht. Wir haben einen Auftrag zu erledigen. Also noch mal von vorn.«
Zalika stampfte absichtlich über die Bretter, dann die Treppe hinunter und zur Scheune hinaus. Draußen ging sie exakt zweiunddreißig Meter weit, blieb stehen und wartete.
In der Scheune deutete Carver eine längere Rede an: »Blablabla, blubber, blubber, schwafel, jetzt.«
Er und Zalika trugen Ohrhörer, die mit ihren Mobiltelefonen verbunden waren. Als Zalika das Wort »jetzt« hörte, marschierte sie in gleichmäßigem Schritt zur Scheune zurück, ging durch die Tür und sehr, sehr leise die Treppe hinauf.
Es war Mittwochnachmittag. Seit vierundzwanzig Stunden tat sie immerzu dasselbe, wiederholte den scheinbar simplen Ablauf, bis er so eingeschliffen war, dass sie ihn ohne zu überlegen ausführen konnte, quasi als wären ihre Glieder autark. Carver hatte eine Hand voll von Klerks Angestellten rekrutiert, damit sie die Rolle der Hausmädchen und Leibwächter spielten. Die hatten keine Ahnung, warum sie bei diesem seltsamen Spiel mitmachen sollten, empfanden das aber als lustige Abwechslung von ihrer täglichen Routine. Ab und zu ließ er sie das Geschehen ein bisschen abwandeln. Was, wenn jemand im Hausflur war, wenn Zalika hereinkam? Was, wenn sie beim Öffnen des Safes gestört wurde? Was, wenn sie sich den Weg nach draußen erkämpfen musste?
Die Bandbreite von Zalikas Fähigkeiten überraschte Carver nicht mehr. Am Tag vorher hatten sie ein bisschen auf der Judomatte trainiert, Tritte, Schläge, Würfe und Abblocken. Sie waren hart rangegangen, richtig ins Schwitzen gekommen. Als er ihr das Kompliment machte, sie könne mit ihm mithalten, hatte sie sich eine Strähne aus dem Gesicht gestrichen und atemlos erwidert: »Soll das ein Witz sein? Ich bin eine Stratten. Ich hatte meinen ersten
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