Samuel Carver 04 - Collateral
erkannte eine als Tina Wong. Sie ließ sich durch nichts anmerken, dass sie über ihn Bescheid wusste. Vielleicht erkannte sie ihn in dieser Verkleidung nicht. Viel wahrscheinlicher war jedoch, dass sie sich genauso professionell verhielt wie bei ihrem Treffen auf der Fähre.
Carver musste an sich halten, um nicht zu rufen: Was machen Sie denn hier? Ihm war überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass auch vom chinesischen Personal verlangt werden könnte, an der Hausmesse teilzunehmen. War Faith Gushungo derart fanatisch? Oder waren Wong und ihre Kollegin tatsächlich Christen? Möglich war’s, dachte Carver. Hongkong war hundertfünfzig Jahre lang britisch gewesen. Warum sollten nicht einige Chinesen zum Glauben der Kolonialherren übergetreten sein? Er fluchte im Stillen, weil er nicht daran gedacht hatte.
Mabeki nahm seinen Posten neben der Tür ein, von wo er das Geschehen überwachen wollte. Er nickte Carver zu, damit er anfing.
»Guten Morgen«, sagte Carver und versuchte, sich an seine nächsten Zeilen zu erinnern. Sein Kopf war wie leer gefegt. Seine Konzentration war weg. Er hatte noch nicht einmal begonnen, und schon lief alles schief.
61
»Wir begehen heute den Pfingstsonntag und gedenken damit der Erscheinung des Heiligen Geistes unter den Aposteln und der Verleihung der Gabe des Zungenredens. Ich werde nur eine Stelle aus der Apostelgeschichte lesen, wenn Ihnen das recht ist, Sir, und zwar aus der traditionellen King-James-Ausgabe. Ich finde, die Poesie der Sprache gleicht die Erschwernis im Textzugang mehr als aus.«
Carver blickte zu Gushungo, der nickend sein Okay gab.
»Sehr gut«, fuhr Carver fort. »Dann wollen wir beginnen.«
Auf der Straße vor dem Haus setzte sich Zalika Stratten in Bewegung.
Carver las aus seiner Agende vor: »Gnade, Barmherzigkeit und Friede von Gott dem Vater und dem Herrn Jesus Christus seien mit euch.«
»So auch mit dir«, antwortete die achtköpfige Gemeinde viel inbrünstiger, als Carver es von seinen Kirchenbesuchen in England gewohnt war.
Nun kam das Einleitungsgebet. Die Gushungos und ihr Personal konnten es auswendig und sprachen mit, als er deklamierte.
Allmächtiger Gott,
dem alle Herzen offenbar, alle Begehren kund
und vor dem keine Geheimnisse verborgen sind:
reinige die Gedanken unserer Herzen
durch die Eingebung Deines Heiligen Geistes,
damit wir dich völlig lieben
und Deinen heiligen Namen würdig erheben mögen;
durch Jesum Christum unsern Herrn.
Amen
Reinige die Gedanken unserer Herzen, grübelte Carver. Eine bedeutungsvolle Zeile. Wie viele Menschen in diesem Raum konnten auch nur so tun, als wäre ihr Herz rein?
Sie fuhren fort mit dem Sündenbekenntnis, und Carver fragte sich, woran die Gushungos dachten, wenn sie Gott bekannten, sie hätten gegen ihn und gegen ihre Nächsten in Gedanken, Worten und Taten gesündigt. Glaubten Sie das? Wie konnten sie dann jedes Mal so weitermachen wie vorher? Vielleicht waren die Worte eine Sühne, die die alten Gräueltaten auslöschte und die Gushungos zu neuen befreite.
Er las das Altargebet für Pfingsten. Darin baten sie Gott, seinem Volk in allen Dingen das rechte Urteil zu verleihen. Carver war gekommen, um als Richter, Geschworener und Henker zu agieren. Noch nie war er mit einer Zielperson so kurz vor ihrem Tod in so engen, persönlichen Kontakt getreten. Selbst für jemanden, der kaum religiös dachte, hatte diese Gemeinschaft im Gebet etwas Besonderes an sich. Es machte sie alle mitschuldig, ohne dass er das hätte erklären können. Es ließ die nüchterne Endgültigkeit, die kaltblütige Berechnung der geplanten Tat umso deutlicher hervortreten.
Zalika war an der Haustür angelangt. Sie stieß sie sachte auf. Lautlos schwang sie in den Angeln, die Tina Wong am frühen Morgen geölt hatte. Zalika war genauso lautlos, als sie über die Marmorfliesen auf die Treppe zuging.
Die Lesung für diesen Sonntag war dem zweiten Kapitel der Apostelgeschichte entnommen. Er las die Verse 1 bis 11. Darin wurde geschildert, wie der Heilige Geist in das Haus fuhr, in dem sich die Apostel versammelt hatten. Plötzlich entstand vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein gewaltiger Wind daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, worin sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, die sich zerteilten, wie von Feuer, und es setzte sich auf jeden unter ihnen.
Carver fühlte sich selbst wie ein Geist, der in das Haus geschlichen war und über seine Insassen herfiel. Er war jetzt ganz ruhig, unbewegt, seine
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