Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
später trotzdem noch dorthin fliegen?«
»Wenn sie denn wirklich da gewesen sind«, meinte Valdemar. »Die menschliche Neugier kennt keine Grenzen. Und manchmal vergessen wir das Risiko, das damit verbunden ist. Glaub mir, es ist besser, nicht alles zu wissen. Es sei denn, du findest dich damit ab, eine Art Randexistenz zu führen.«
»Und das erklärst du in deinem Buch.«
»Ja. Es ist eine Chronik der Entdeckungen, die mich dorthin gebracht haben, wo ich heute bin. Angefangenbei dem, was ich die Mondrätsel nenne. Ich meine die Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit den Weltraummissionen, die Frage, welche realen Möglichkeiten es gibt, sich dort anzusiedeln, und zu welchem Zeitpunkt dies geschehen wird, die Unsterblichkeit ... all das. Aber das sind nur die Vorarbeiten. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich die wahre Botschaft verstand: Die dunkle Seite des Mondes ist eine Spiegelung unserer eigenen Seele. Vergiss den Wettlauf ins All. Das ist ein Kinderspiel, verglichen mit dem, was in uns selbst los ist.«
HEISSE SCHOKOLADE MIT KATZE
Nach unserer langen nächtlichen Unterhaltung stand ich am nächsten Morgen ziemlich neben mir. Nach allen möglichen Fragen über den Mond und die Seele war Valdemar auch noch einmal auf die Bahnsteigmenschen zu sprechen gekommen.
»Wer weiß, womöglich waren sie es, die das Feuer vor meiner Tür gelegt haben. Vielleicht verzeihen sie mir nicht, dass ich entdeckt habe, wie sie da unten sitzen, ohne jemals einzusteigen«, hatte er gesagt.
Das hatte ich ihm sogleich auszureden versucht, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand ein Attentat auf einen armen Teufel wie ihn verüben würde. Ich erklärte ihm, dass der Brand viele ganz alltägliche Ursachen gehabt haben könnte: Irgendjemand, womöglich er selbst, hatte eine brennende Kippe vor seine Tür geworfen, die dann den Fußabtreter in Brand gesetzt hatte.
Das klang logisch und es hatte gewirkt, zumindest als Placebo, damit wir ruhig schlafen gehen konnten.
Valdemar stapfte mit seinen Sachen in Titus’ Wohnung hinauf, und wir verabredeten, uns am nächsten Tag bei Einbruch der Dunkelheit wiederzutreffen. In der Zwischenzeitwürde ich mich mit meiner eigenen Müdigkeit und der Faulheit meiner Studenten herumärgern müssen, von denen ein Großteil nicht mehr zum Seminar erschien, weil die Prüfungen kurz bevorstanden.
Das Café an der Kreuzung gehörte der Vergangenheit an, also nutzte ich meine Mittagspause, um in der Tierarztpraxis vorbeizuschauen. In Mishimas Katzenpass stand der Vermerk, dass sie noch eine zweite Impfung benötigte. Da stand ich also und fragte Meritxell, wann ich Mishima bringen könnte.
»Heute Nachmittag habe ich einen Hausbesuch ganz bei dir in der Nähe«, sagte sie. »Wenn du willst, komme ich bei dir vorbei, dann musst du sie nicht hin- und hertransportieren. Ich berechne es dir wie einen Praxistermin, in Ordnung?«
Offensichtlich war ich ihr sympathisch. Ich musste lächeln. Zu Hause würde ich schon einmal die lang ersehnte heiße Schokolade mit Biskuit vorbereiten. Allerdings durfte ich mir meine Freude nicht anmerken lassen, denn die Tierärztin war eine scheue Person, und zunächst sollte alles nach einem normalen Termin aussehen.
»Okay«, willigte ich ein, »aber sag mir nicht, wann genau du kommst. Ich werde sogar versuchen, überhaupt zu vergessen, dass wir verabredet sind, damit Mishima sich nicht wieder versteckt.«
»Gute Taktik«, sagte sie und zwinkerte mir zu, bevor sie durch die Tür des Behandlungszimmers verschwand.
DAS GELERNTE WIEDER VERLERNEN
Bevor ich meine eigene Wohnung betrat, ging ich nach oben, um dort nach dem Rechten zu sehen. Ich legte ein Ohr an die Tür, doch es war nichts zu hören. Wahrscheinlich schlief Valdemar. Schließlich musste er Kräfte sammeln, um mich nachts wieder wachzuhalten.
Ich freute mich auf den Besuch von Meritxell und vergaß prompt, meine Freude zu unterdrücken, damit Mishima nichts witterte. So blieb es nicht unbemerkt, dass ich mit einer Tüte Biskuit die Wohnung betrat, und nachdem sie mehrmals unruhig durch den Flur gelaufen war, machte sich die Katze aus dem Staub. Diesmal gab ich mir nicht die Mühe, sie zu suchen.
Ich legte die Biskuits und das Kakaopulver in die Küche und ließ mich ruhigen Gewissens in den Sessel fallen. Beseelt begann ich, noch einmal in dem Wörterbuch der unübersetzbaren Wörter zu stöbern.
Als ich das Buch von hinten nach vorne durchblätterte, blieb ich an einem vertrauten Begriff
Weitere Kostenlose Bücher