Samurai 2: Der Weg des Schwertes (German Edition)
offenbar noch üben«, bemerkte Sensei Yamada. Er legte ein zweites Blatt Papier vor sich hin. »Wer kann mir sagen, was das ist?«
»Ein Kranich!«, riefen die Schüler im Sprechchor.
»Keineswegs!«, entgegnete der Sensei sehr zur Verwirrung seiner Schüler. »Seht mit dem Verstand hin, nicht mit den Augen.«
Er nahm das Blatt und bog und faltete es mit den Fingern geschickt zu immer raffinierteren Formen. Staunend betrachteten die Schüler das fertige Modell.
»Das ist doch ganz eindeutig ein Schmetterling«, sagte der Sensei mit einem ironischen Lächeln. Auf seiner Hand lag tatsächlich die naturgetreue Nachbildung eines Schmetterlings mitsamt der Fühler. »Ihr werdet heute Abend üben, einen Papierkranich zu falten wie den, den ich euch gezeigt habe. Und während ihr damit beschäftigt seid, meditiert ihr darüber, was Origami euch lehrt.«
Die Schüler nahmen jeder einige Blatt Papier mit und verließen die Buddha-Halle.
»Und denkt daran: Die Antwort liegt im Papier!«, rief Sensei Yamada ihnen nach.
Jack folgte den anderen nicht nach draußen. Er wartete, bis alle gegangen waren, und kehrte dann zu seinem Lehrer zurück.
»Du wirkst bedrückt, Jack-kun. Was beschäftigt dich?« Sensei Yamada stellte den Schmetterling und den Kranich auf den Altar am Fuß des Schreins mit der großen Buddha-Statue.
Jack musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um über seine Ängste zu sprechen. »Ich habe gehört, Daimyo Kamakura habe einen christlichen Priester töten lassen. Stimmt das?«
Sensei Yamada nickte traurig. »Ich habe auch davon gehört. Ein schlimmes Unglück.«
»Der Daimyo will also alle Christen in Japan töten?«, rief Jack erschrocken.
»Wer sagt das?« Sensei Yamada hob überrascht die Augenbrauen. »Soviel ich weiß, wurde der Priester nicht aus religiösen Gründen getötet. Er hat einen Gerichtsbeamten bestochen und wurde für sein Verbrechen bestraft. Zugegeben, so etwas ist noch nie passiert und Daimyo Kamakura scheint gegenüber Ausländern keine Gnade zu kennen, aber das bedeutet nicht automatisch, dass alle Christen bedroht sind.«
»Aber ich habe gehört, der Daimyo wolle alle Ausländer mit Gewalt aus dem Land vertreiben«, beharrte Jack. »Das würde auch mich betreffen!«
»Du hast nichts zu fürchten«, erwiderte Sensei Yamada und lächelte Jack freundlich an. »Wenn Masamoto-sama glauben würde, du seist bedroht, würde er etwas dagegen unternehmen.«
Jack sah ein, dass Sensei Yamada wohl Recht hatte. Es war abwegig, allein nach Nagasaki fliehen zu wollen, und mit Masamoto als Beschützer auch unnötig. Er wusste allerdings auch, dass die Rangfolge in Japan eine große Rolle spielte. Kamakura war als Daimyo von Edo ein einflussreicher Mann und Jack wusste nicht, ob Masamoto genug Macht hatte, ihn vor Kamakura zu schützen.
»Aber ist ein Daimyo nicht mächtiger als ein Samurai?«, fragte er. »Kann Masamoto-sama mich wirklich vor dem Daimyo schützen?«
»Masamoto-sama ist der womöglich größte Schwertkämpfer aller Zeiten«, sagte Sensei Yamada mit einem belustigten Kichern. »Und selbst wenn Daimyo Kamakura die Ausländer vertreiben wollte, würde er mit diesem törichten Vorhaben bei anderen kaum auf Zustimmung stoßen. Japan braucht Ausländer für den Handel.«
Der Sensei stand auf und begleitete Jack zum Ausgang. Von der obersten Stufe der Treppe zeigte er zu den Dächern der Burg Nijo hinüber.
»Wie du selbst weißt, regiert hier in Kyoto Daimyo Takatomi. Daimyo Takatomi ist aber nicht nur für diese Provinz zuständig, sondern ist einer von mehreren Regenten Japans. Er ist bei den Samuraifürsten sehr beliebt und mag Christen und Ausländer. Wie ich gehört habe, mag er sie so sehr, dass er selbst zum Christentum übertreten will. Er würde also nicht zulassen, dass die Christen verfolgt werden.«
Sensei Yamada legte Jack beruhigend die Hand auf die Schulter.
»Hier bist du vollkommen sicher, Jack.«
14
Ein Eindringling
Nach Sensei Yamadas tröstenden Worten hätte einem schönen Abend nichts mehr entgegengestanden, hätte Yamato Jack nicht an die Strafarbeit erinnert, die ihm Sensei Kyuzo aufgegeben hatte. Während die anderen also Kraniche falteten und über Sensei Yamadas Koan grübelten, war Jack damit beschäftigt, jeden Holzklotz der Übungsfläche des Butokuden einzeln zu polieren.
Der Boden erschien ihm endlos wie ein Meer, auf dem sein Schatten wie eine kleine Welle im Rhythmus der Bewegungen, mit denen er das Polieröl in das Holz einarbeitete,
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