Samurai 2: Der Weg des Schwertes (German Edition)
den Augen sehen, heißt gar nicht sehen. Also machte er sich die Fähigkeiten zunutze, die er in den vergangenen Monaten gelernt hatte, lauschte auf das Flüstern der Umstehenden und überlegte, wo das Papiergesicht im Verhältnis zu den Hintergrundgeräuschen hängen musste. Er drehte sich, bis er zu einer Stelle kam, von der er nichts hörte. Offenbar stand er jetzt vor der Wand. Dann überlegte er, wie das Gesicht ausgesehen hatte, trat zuversichtlich drei Schritte vor und klebte den Mund an.
»Gut gemacht, Jack. Jetzt noch Augen und Nase.«
Yamato drehte ihn wieder im Kreis und gab ihm die anderen Gesichtszüge. Wieder lauschte Jack und setzte seine Sinne dazu ein, das Gesicht zu finden. Als er fertig war, herrschte einen Augenblick lang versteinertes Schweigen. Dann klatschten alle.
»Wie hat er das gemacht?«, fragte Tadashi Yamato. »Er muss geschwindelt haben. Du hast etwas gesehen, nicht wahr, Jack?«
Jack schüttelte den Kopf und nahm die Binde ab. Augen, Nase und Mund saßen an genau den richtigen Stellen. Sensei Kanos Unterricht im Chi Sao trug erste Früchte.
»Anfängerglück«, erklärte Yamato und stieß Jack verschwörerisch in die Seite. Sie kehrten zum Tisch und den anderen zurück. Akiko war verschwunden.
»Wo ist sie?«, fragte Jack.
»Sie fühlt sich nicht gut und wollte schlafen«, antwortete Kiku. »Sie glaubt, sie hat etwas Falsches getrunken.«
»Hat jemand nach ihr gesehen?« Jack musste daran denken, wie blass sie während des Segens gewesen war und dass sie nichts gegessen hatte.
Alle schüttelten die Köpfe. Jack entschuldigte sich und machte sich besorgt auf den Weg zur Halle der Löwen.
Akiko war nicht in ihrem Zimmer. Jack suchte im Badehaus und bei den Toiletten nach ihr, doch ebenfalls vergeblich. Ob sie zum Fest zurückgekehrt war? Er wollte schon in die Halle der Schmetterlinge zurückgehen, da bemerkte er eine einsame Gestalt, die im Begriff war, die Schule durch den Nebeneingang zu verlassen. Er folgte ihr eilends nach draußen, wo ein reges Treiben herrschte.
5 »… die jetzt Lebenden, die uns Vorangegangenen und die auf uns Folgenden.« Diese Formulierung basiert auf einem traditionellen buddhistischen Segen und Heilgesang (anonym).
35
Hatsuhinode
Auf den Straßen Kyotos drängten sich die Feiernden und in den Tempeln die Gläubigen. Die Eingänge der Häuser waren mit Kiefernreisig, Bambusstangen und Pflaumenbaumzweigen geschmückt. Die Glück bringenden Götter des neuen Jahres sollten damit um ihren Schutz und Segen gebeten werden. In den Türen hingen mit weißen Papierstreifen geschmückte, geflochtene Schnüre zur Abwehr böser Geister.
Jack sah Akiko vor sich die Straße entlangeilen. Zwar hatte er die Warnung des Mönches, er solle die Privatsphäre seiner Freundin respektieren, nicht vergessen, aber er sorgte sich in diesem Moment vor allem darum, dass sie ausging, obwohl sie sich unwohl fühlte. Er schob sich durch die Menge und folgte Akiko durch eine schmale Gasse, über einen Marktplatz und auf einen großen, von Bäumen gesäumten Platz. Hier drängten sich viele Menschen. Einige betrunkene Samurai rempelten ihn an und er verlor Akiko aus den Augen.
»Platz da!«, rief ein Samurai und packte ihn am Aufschlag seines Kimonos.
Der Samurai trat dicht vor ihn. Sein Atem roch scharf nach Reiswein.
»Ein Gaijin«, schnaubte er verächtlich. »Was hast du denn hier zu suchen? Du bist hier nicht zu Hause.«
»Lass den in Ruhe«, rief ein anderer aus der Gruppe und zeigte unsicher schwankend auf das Phönixwappen auf Jacks Kimono. »Der gehört zu Masamoto. Du weißt schon, der junge Gaijin und Samurai.«
Der Betrunkene ließ Jack los, als habe er sich verbrannt.
»Ich bin froh, wenn Daimyo Kamakura in Kyoto aufräumt, wie er es gerade in Edo tut«, schnarrte der Samurai und entfernte sich torkelnd mit seinen Freunden.
Jack sah ihm erschrocken nach. Er hatte sich bisher nicht klargemacht, in was für eine Gefahr er sich begab, wenn er allein durch die Gassen Kyotos streifte. In der Schule war er vergleichsweise sicher. Außerhalb schützte ihn nur der Ruf Masamotos und er konnte sich nicht darauf verlassen, dass alle das Familienwappen seines Beschützers kannten. Er musste Akiko finden, bevor er noch einmal angepöbelt wurde.
Nervös sah er sich um. Die meisten Feiernden waren vor allem mit sich selbst beschäftigt und streiften ihn nur mit flüchtigen Blicken. Plötzlich wusste er, wo er sich befand. Die steinerne Treppe vor ihm führte zum Tempel
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