Samurai 2: Der Weg des Schwertes (German Edition)
Wir denken an das vergangene Jahr zurück, begraben alles Schlechte, erinnern uns an das Gute und machen Vorsätze für das neue Jahr. Besonders wichtig ist uns immer das erste Mal, das etwas geschieht, also etwa der erste Besuch eines Tempels, der erste Sonnenaufgang oder der erste Traum.«
»Was ist am ersten Traum so wichtig?«, fragte Jack.
»Er prophezeit, was dir im neuen Jahr passieren wird.«
Akiko blickte schläfrig zu Jack auf und gähnte. Die durchwachte Nacht machte sich bemerkbar. Sie war immer noch bleich, doch seit ihrem Besuch bei dem Mönch nicht mehr totenblass und schien sich mit Anbruch des neuen Tages zunehmend zu erholen.
»Träume heute Abend etwas Schönes!«, flüsterte sie.
Sie rückte noch näher an ihn und war kurz darauf an seiner Schulter eingeschlafen.
Jack saß schweigend da, lauschte auf das frühmorgendliche Vogelgezwitscher und spürte die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des neuen Jahres auf der Haut.
36
Zeichen der Gefahr
Akiko lag bewegungslos am Fuß des Berges.
Jack kannte den Ort nicht. Ein schwarzer Vulkankegel stieg aus dem Boden auf, sein Gipfel war mit Eis und Schnee bedeckt.
Jack stand auf einem steinigen Weg, der in vielen Kurven durch das unebene Gelände auf Akiko zuführte. Akiko hielt ein gelapptes Blatt in der linken Hand. Zwischen ihnen huschten vier schwarze Skorpione über den Boden. Ihre mit Giftstacheln besetzten Schwänze zuckten und ihre schwarzen Knopfaugen funkelten boshaft. Ein einsamer Falke kreiste am leeren Himmel und stieß einen heiseren, traurig klingenden Schrei aus.
Plötzlich kroch ein Skorpion auf Akiko zu und krümmte den Rücken, um ihr seinen Stachel in die Brust zu bohren.
»Akiko!«, schrie Jack.
»Ich bin hier, Jack«, antwortete Akiko leise und sanft an seinem Ohr.
Er öffnete die Augen.
Über ihm hingen Äste, die so dick mit rosa-weißen Kirschblüten besetzt waren, dass sie den leuchtend blauen Himmel verdeckten und Jack vor der heißen Frühlingssonne abschirmten.
Er setzte sich auf.
Akiko hockte neben ihm. Auch Yamato und Kiku waren da. Sie lehnten gegen den Stamm des Baumes und musterten ihn besorgt. Ihm fiel ein, wo er sich befand. Es war Mitte Frühling und sie besuchten einen der vielen Gärten Kyotos, um Hanami zu feiern, das Kirschblütenfest.
Ein Windstoß fuhr von Süden durch die Äste und Blütenblätter fielen wie Tränen auf den Boden. Einige verfingen sich in Akikos Haaren.
»Ist ja gut«, sagte Akiko beruhigend und zupfte sich die Blätter aus den Haaren. »Du hast geträumt. War es derselbe Traum?«
Jack nickte. Sein Mund war vor Angst wie ausgedörrt. Ja, er hatte dasselbe geträumt wie in der ersten Nacht des Jahres. Er hatte Akiko am Tag nach Neujahr davon erzählt. Dass auch sie selbst darin auftauchte, hatte er ihr allerdings verschwiegen. Er hatte Sensei Yamada um Rat gefragt und der Zen-Meister hatte eine Deutung versucht. »Der Berg, den du siehst, ist der Fuji. Als höchster Berg unseres Landes und Zuhause vieler großer Götter bedeutet sein Auftauchen in deinem Traum Glück. Der Falke steht für Stärke und Geistesgegenwart. Bei dem Blatt scheint es sich deiner Beschreibung nach um das Blatt einer Aubergine zu handeln. Der Name dieser Frucht, nasu , kann das Vollbringen einer großen Tat bedeuten. Auch das ist ein gutes Omen für die Zukunft.«
Jack, der Träumen früher keine Bedeutung beigemessen hatte, hatte erleichtert geseufzt. Doch der alte Mönch war noch nicht fertig gewesen. »Das Auftauchen von Skorpionen andererseits steht oft für Verrat, der die große Tat verhindert. Vier gilt außerdem als Unglückszahl. Shi, das Wort für vier, bedeutet auch ›Tod‹.«
»Das musst du dir ansehen!«, rief Saburo von weitem und riss Jack aus seinen Gedanken.
Atemlos kam er mit Yori im Schlepptau bei ihnen unter dem Kirschbaum an und zeigte auf ein großes Holzschild, das in diesem Augenblick an der Straße aufgestellt wurde. Sie standen alle auf und verließen den Garten, um sich das Schild genauer anzusehen.
»Es ist eine Bekanntmachung«, erklärte Yamato Jack. »Sie lautet: ›Jeder, der mich herausfordert, wird angenommen. Er schreibe seinen Namen und Aufenthaltsort auf dieses Schild. Sasaki Bishamon.‹«
»Na, wunderbar«, bemerkte Kiku ironisch. »Ein Samurai auf Kriegerwallfahrt, der den Namen des Kriegsgottes trägt!«
»Glaubt ihr, wir bekommen ein Duell zu sehen?«, fragte Saburo eifrig und vollführte einige Schwerthiebe in der Luft gegen einen imaginären Gegner.
»Wir
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