Samurai 2: Der Weg des Schwertes (German Edition)
des friedlichen Drachen mit seinem geschwungenen grünen Dach hinauf.
»Warum folgst du mir?«
Er fuhr herum.
Aus der Menge starrte ihn das aschgraue Gesicht Akikos an.
»Kiku meinte, dir sei nicht gut«, antwortete er.
»Ich kann selbst auf mich aufpassen, Jack. Ich habe nur etwas getrunken, das mir nicht bekommen ist.« Akiko musterte ihn streng. »Du bist mir doch schon einmal hierher gefolgt, stimmt’s?«
Jack nickte. Er kam sich vor wie ein auf frischer Tat ertappter Verbrecher.
»Besten Dank für deine Fürsorglichkeit«, sagte Akiko, doch ihre Stimme klang kalt, »aber ich hätte dir schon gesagt, wohin ich gehe, wenn ich gewollt hätte, dass du es weißt.«
Jack spürte, dass sie ihm nicht mehr vertraute. »Es … tut mir sehr leid, Akiko«, sagte er stockend. »Ich wollte das nicht.
Nur …«
Er wusste nicht, wie er es sagen sollte, und senkte den Blick verlegen auf seine Füße.
»Nur was?«
»Du bist mir wichtig und ich habe mir Sorgen gemacht.« Die Worte sprudelten auf einmal nur so aus ihm heraus und er konnte nicht mehr an sich halten. »Seit ich hier bin, kümmerst du dich immer um mich. Du bist meine einzige wirkliche Freundin. Aber konnte ich dir je helfen? Es tut mir leid, dass ich dir gefolgt bin, aber dir war schlecht und ich dachte, dass du vielleicht meine Hilfe brauchst. Kann ich nicht zur Abwechslung auch einmal etwas für dich tun?«
Akikos Augen wurden warm und freundlich. Die Entfremdung, die in letzter Zeit zwischen ihnen geherrscht hatte, schmolz.
»Willst du wirklich wissen, wohin ich gehe?«, fragte Akiko leise.
»Nicht, wenn du es nicht sagen willst.« Jack wandte sich zum Gehen.
»Aber ich will es dir erzählen, du musst es wissen«, beharrte Akiko und legte ihm die Hand auf den Arm. »Heute hat mein kleiner Bruder Geburtstag.«
»Du meinst Jiro?«, fragte Jack überrascht. Er erinnerte sich noch gut an den fröhlichen, kleinen Jungen, mit dem er sich vor über einem Jahr in Toba angefreundet hatte.
»Nein, ich hatte noch einen anderen Bruder. Er hieß Kiyoshi.« Akikos Augen wurden feucht. »Leider hat er uns verlassen. Ich wollte am Schrein für ihn beten. Er wäre heute acht geworden.«
Genauso alt wie Jess, dachte Jack und spürte einen Stich im Herzen.
»Ich habe ihn im vergangenen Jahr sehr vermisst«, fuhr Akiko fort. »Deshalb habe ich Trost bei einem Priester gesucht, einem Mönch aus dem Tempel des friedlichen Drachen.«
Jack fühlte sich doppelt schuldig. Das also war der eigentliche Grund von Akikos geheimnisvollem Verschwinden. Sie trauerte um ihren kleinen Bruder.
»Das tut mir leid … Ich wusste ja nicht …«
»Es braucht dir nicht leidzutun, Jack«, fiel Akiko ihm ins Wort und bedeutete ihm mit einem Nicken, ihr zum Eingang des Tempels zu folgen. »Warum begleitest du mich nicht zum Schrein und sprichst ein Gebet für meinen Bruder? Anschließend können wir rechtzeitig zum hatsuhinode den Berg Hiei hinaufsteigen.«
Akiko lehnte sich an Jack, um sich zu wärmen.
Sie saßen allein im Schutz einer eingestürzten Tempelmauer am Rand des Klosters Enryakuji und blickten auf Kyoto hinunter, das unter dem Frühnebel im Tal drunten verborgen lag. Die kalte Bergluft ließ sie beide frösteln, aber innerlich war Jack ganz warm.
Sie hatten den kleinen Schrein im Tempel des friedlichen Drachen besucht. Akiko hatte kurz mit dem Mönch allein gesprochen, dann hatten sie gemeinsam Gebete für Kiyoshi gesprochen. Es war das erste Mal, dass Jack sich in Akikos privates Leben aufgenommen fühlte. Ihm war, als sei ein Schirm beiseitegeschoben und ein fein gewobener Wandteppich enthüllt worden, dessen Anblick er nie mehr vergessen würde.
Da Akikos nächtliche Ausflüge damit eine Erklärung gefunden hatten, fühlte Jack sich in ihrer Gesellschaft wieder wohl. Der Mönch mit den messerähnlichen Händen schien ihm zwar eine ungewöhnliche Wahl als Seelentröster, doch maßte er sich nicht an, Akikos Wahl zu kritisieren. Nur ihre Kletterkünste erstaunten ihn nach wie vor, aber vielleicht hatte sie ja die Wahrheit gesagt und war ein Naturtalent. Egal welche Erklärung nun zutraf, es genügte Jack, dass er sich Akiko wieder nahe fühlen konnte.
Sie waren den steilen Hang des Berges Hiei hinaufgestiegen und warteten jetzt auf hatsuhinode, den ersten Sonnenaufgang des neuen Jahres.
»Der Neujahrstag hat eine wichtige Bedeutung für das ganze Jahr«, erklärte Akiko leise. Ihr Atem bildete in der kalten Luft eine weiße Wolke. »Er steht für den Neuanfang.
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