San Miguel: Roman (German Edition)
»Das musst du erschauen«, rief er. Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung.
»Erschauen? Hast du wieder Burns gelesen?«
»Ja. ›An eine Maus‹.« Er begann zu rezitieren. »›Ach, winzig kleines zitternd Mäuschen, / Was bist du denn so aus dem Häuschen?‹ Den Rest hab ich vergessen. Wie heißt ›Maus‹ noch mal auf französisch?«
» La souris .«
»Ach ja, richtig.« Und er wiederholte es: » La souris . Jedenfalls hab ich ein paar souris , die du dir ansehen musst, les enfants d’une mère qui est morte .«
Erst da bemerkte sie, dass sein Hemd aufgeknöpft und ausgebeult war, weil er seine Hand hineingesteckt hatte. Im nächsten Augenblick zog er sie heraus, und auf den Schwielen seiner Handfläche lagen drei rosige haarlose Dinger, nicht größer als Käfer. Sie hatten Schwänze, Schnurrhaare und bleiche, gekrümmte Pfoten. Mäuse. Les souris .
»Jetzt sag bloß, die sind nicht süß«, sagte er.
»Sie sind nicht süß.«
Seine Mundwinkel zuckten, aber er lächelte weiter. »Ungläubige«, erwiderte er. »Du siehst es vielleicht anders, aber für mich sind sie schön, perfekt, alles da, nur ganz klein – sieh sie dir nur an. Es sind Babys, Elise, Babys .«
Sie zuckte die Schultern, als wollte sie sagen, es gebe auf der Welt schönere Dinge, und wandte sich wieder dem Nudelholz und dem Teig zu. Sie war nicht zimperlich und auch nicht gleichgültig, aber es waren Mäuse, bloß Mäuse. »Und was willst du jetzt mit ihnen machen?« fragte sie ihn, obwohl sie die Antwort schon kannte.
»Sie aufziehen natürlich. Ich kann sie doch nicht sterben lassen. Ich war im Schuppen, wo die Bar hinsoll, du weißt schon, und hab ein paar Sachen beiseite geräumt, um Platz zu schaffen, und die Mutter hab ich erst gesehen, als es zu spät war. Es ist also meine Schuld.«
»Und dann?« fragte sie. »Wenn sie groß sind? Willst du ihnen beibringen zu bellen und mit dem Schwanz zu wedeln?«
Sie sah in sein Gesicht – sie wollte ihn bloß necken –, doch er lachte nicht, er lächelte nicht mal. Er schien tief in Gedanken versunken. »So weit habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte er. »Jetzt brauche ich erst mal die Pipette. Und könntest du mir eine Dose Kondensmilch bringen? Die wird doch wohl nicht zu fett sein, oder?«
Er steckte die Mäuse in einen alten Strumpf, den er neben den Ofen legte, und ging dann hinaus in den Nebel, der keine Anstalten machte, sich aufzulösen. Sie machte weiter und achtete, wenn sie in der Küche umherging, auf ihre Schritte. Der Kuchen wurde allmählich braun, und die Suppe für das Mittagessen kochte auf dem Herd. Dreimal im Verlauf des Vormittags kam er, um nach den Mäusen zu sehen und die Pipette an ihre Schnäuzchen zu halten, doch ob sie tranken oder nicht, konnte Elise nicht erkennen. Nach dem Mittagessen gingen er und Jimmie hinaus, um die Zäune zu reparieren, an denen entlang die Schafe bei der Schur in den Pferch getrieben wurden, wie er ihr erklärte, und als der Abend hereinbrach, schien er den Strumpf in der Ecke und das, was darin war, ganz vergessen zu haben. Doch nein, keineswegs. Noch bevor er sich gewaschen oder Teewasser aufgesetzt hatte, kniete er, die Pipette in der Hand, neben dem Ofen. »Sie trinken!« rief er. »Die eine hier jedenfalls. Sie schaffen’s. Ich glaube wirklich, sie schaffen’s.«
Aber natürlich schafften sie es nicht. Er lag im Bett und schnarchte, während sie sich an der Spüle die Zähne putzte. Die Lampe brannte mit kleiner Flamme, und die Dunkelheit drückte gegen die Fenster. Bevor sie zu Bett ging, sah sie Herbie zuliebe noch einmal nach den Mäusen: Sie waren warm, sie lebten. Der Kuchen war ein Erfolg gewesen, auch wenn er in dem Ofen, mit dem sie sich noch nicht recht auskannte, ein wenig trocken geraten war. Sie deckte die Reste mit einem Teller ab. Am nächsten Morgen waren die Mäuse kalt und bereits erstarrt, winzige Säckchen aus faltigem Leder in einem schmutzigen Strumpf. Der Teller war leicht verrutscht, und auf dem Kuchen waren die mehligen Spuren ihrer Artgenossen. Wie auch auf der Arbeitsfläche, dem Boden und der Wand über der Spüle.
NIEDERGEDRÜCKT
Dass er es schwer nahm, sprach für ihn, für sein Mitgefühl, für seine Gutherzigkeit und Sanftheit und die Fähigkeit, noch in den kleinsten Dingen etwas Wertvolles zu sehen – das sagte sie sich jedenfalls. Doch seine Reaktion, sein bestürztes Gesicht und die Tatsache, dass seine Stimme brach, als er vor dem Frühstück die toten Mäusebabys fand,
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